Die ULB in 50 Jahren

Von Kristina Rzehak

Den Hauptpreis hat Kristina Rzehak gewonnen – eine offenkundige Kennerin der ULB. Sie lässt es nicht fehlen an ideenreichem und hintergründigem Witz, aber auch nicht an unterhaltsam versteckter Kritik. So sind die Studierenden der Zukunft an sogenannte "Computerwunder" angeschlossen, die direkt mit den Gedanken der Nutzer verbunden sind und ein Abschweifen konsequent verhindern. Und ein "Desoptimierungspark" sorgt dafür, dass die Menschen durch sinnfreie Aktivitäten nicht zu Fachidioten verkommen. Schließlich behält die Zwei-Euro-Münze trotz der Abschaffung von Geldscheinen und -münzen in der ULB ihren ihr angestammten Zweck zum Verschließen der Taschenschränke.

Die beste Nachricht zuerst: Auch in 50 Jahren hat die ULB nicht weniger Mitarbeiter als heute. Im Gegenteil, es sind sogar mehr geworden! Doch der Reihe nach ...

In 50 Jahren wird es keine Bücher mehr in der ULB geben - es sei denn, sie haben antiquarischen Wert so wie die Bücher des heutigen Handschriftenlesesaals. Diese alten und wertvollen Bücher und auch ein paar neuere Raritäten sind in einen neu gebauten und angegliederten Gebäudekomplex, dem Büchermuseum, ausgelagert worden.

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Der restliche Bücher- und Zeitschriftenbestand steht den Studierenden und Lehrenden digital zur Verfügung. Sie können entweder mit eigenen Tablets oder mit den UB-eigenen, an jedem Arbeitsplatz verfügbaren ,Computerwundern' aufgerufen werden. Der eigentliche Clou daran ist eine neue Software: Anstatt sich beim Lesen eines Aufsatzes wieder einmal in 1000 Gedanken zu verlieren oder aber vollständig zu vergessen, warum man eigentlich begonnen hat diesen Aufsatz zu lesen, kann man nun seinen Gedankenstrom an den Computer anschließen und mit der Software verbinden.

Mit Hilfe der Software wird die Fragestellung, mit der man an die Lektüre der Literatur herangegangen ist, beantwortet, verschlagwortet und in ein Literaturverwaltungsprogramm eingespeist. Benötigt man also für seine Hausarbeit Angaben über das Privatleben Friedrichs des Großen, etwa speziell über seine Essgewohnheiten, so formuliert man in seinen Gedanken die Frage ("Was aß Friedrich der Große am liebsten?") und schon hat die Software die zur Verfügung stehende Literatur durchgescannt und stellt die entsprechenden Textstellen als Lektüre zur Verfügung. Aus den Textstellen trifft man entweder selbst manuell eine Auswahl oder überlässt das der Software. Die Verschlagwortung ("Lieblingsessen" - "Friedrich der Große" - "Erdbeertorte") übernimmt wieder das Computerprogramm und fügt die Stichworte und ein entsprechendes Exzerpt in das Literaturverwaltungssystem ein.

Ganz ausgereift ist die Technik - oder vielmehr der Benutzer - jedoch nicht: Es hat sich nämlich herausgestellt, dass es nicht ganz einfach ist, in seinen Gedanken genau eine klare Fragestellung zur gleichen Zeit zu formulieren. Es kommt vor, dass so menschliche Geistesblitze wie "Oh Schreck! Mein Vater hat bald Geburtstag! Was schenke ich ihm nur?" immer mal wieder die wissenschaftliche Arbeit durchkreuzen und die Software verwirren ...

Die ULB wird in 50 Jahren erkannt haben, welche Bedeutung die Atmosphäre bzw. der Arbeitsplatz für den Arbeitsprozess besitzen: Es gibt inzwischen einen großen Außenbereich mit Garten (der durch mobile Verglasungen auch im Winter genutzt werden kann) und einem Teich, an dessen Ufern man sich zum Lesen niederlassen kann.

Für jedes Wetter nutzbar sind die beiden heutigen Freihandmagazine eingerichtet worden: Im unteren Magazin, das aufgrund der zwischenzeitlich vollständig digitalisierten Zeitschriften als Aufbewahrungsort nicht mehr benötigt wird, ist eine große Saunalandschaft untergebracht. Sie verfügt über eine große Anzahl von Ruheräumen, in denen ebenfalls Arbeitsplätze eingerichtet worden sind. Das obere der beiden ehemaligen Freihandmagazine ist mit einem weißen Sandstrand versehen worden, auf den künstliche Palmen gepflanzt wurden. Liegestühle laden zum Denken und Arbeiten ein. Gerade im Sommer wird dieses Magazin gern genutzt, da es zwar Sommeratmosphäre verbreitet, jedoch dabei angenehm kühl bleibt - auch Sonnenbrandgefahr besteht hier natürlich nicht.

Da es auch in 50 Jahren den Studierenden immer noch selbst überlassen ist, einen wissenschaftlichen Text zu formulieren, stehen in der ULB eine große Zahl an Schreibberatern jederzeit für Fragen zur Verfügung. An jedem der Lernorte sind offene Büros eingerichtet worden, in denen die Textexperten von den Studierenden konsultiert werden können. Auch Fachtutoren der einzelnen Fächer sind für die Fragen der Studierenden vor Ort: Selbst die Orchideenfächer, wie etwa die Ur- und Frühgeschichte, haben Tutoren an die ULB entsendet. Der Münsteraner ULB ist es zudem gelungen, durch die Einführung des sogenannten ,Tutor Optimus' eine Vorreiterrolle unter den Universitätsbibliotheken Europas einzunehmen: Diese Tutoren verfügen über breites Allgemeinwissen und geben an der ULB Kurse zu allen möglichen populärwissenschaftlichen Problemstellungen: Dazu gehören etwa philosophische Fragen ("Ist es moralisch vertretbar, dass die Bundesrepublik Deutschland Edward Snowden kein Asyl gewährt?") und mathematische Rätsel ("Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?"). Auf diese Weise erlangen die Studierenden beinahe spielerisch Einblick in die Denk- und Arbeitsweise anderer Fächer. Den Germanisten fällt es leichter, die Ingenieure zu verstehen und die Wirtschaftswissenschaftler freunden sich mit soziologischen Theorien an.

Außerdem können in der ULB Berater für Zeit- und Selbstmanagement um Hilfe gebeten werden, wenn es etwa um die zeitliche Planung des Studiums vor Prüfungs- und Klausurphasen geht. Work-Life-Balance-Berater bieten ebenfalls ihre Hilfe an: Welche Prioritäten sind zu setzen? Wie bleibt man im Studienstress gesund?

Die Frage der Finanzierung all diesen zusätzlichen Personals muss glücklicherweise nicht gestellt werden: Ein dauerhaftes Bund-Länder-Programm sorgt für eine lang planbare Bezahlung der zusätzlichen Kräfte. Da das Programm an den Solidaritätspakt gekoppelt wurde (dessen Einkünfte inzwischen auch im Westen Deutschlands eingesetzt werden dürfen), ist mit einem frühzeitigen Versiegen der Geldquelle nicht zu rechnen. Hintergrund der Einführung dieses Programms war wieder einmal das Stöhnen der Wirtschaft, die zuletzt immer wieder vergeblich nach gut und breit ausgebildeten Fachkräften suchen musste. Die Bachelor- und Masterausbildung hatte mittelfristig dazu geführt, dass sich immer mehr hochspezifisch ausgebildete Fachleute auf dem Arbeitsmarkt wiederfanden, für die es immer weniger Einsatzorte gab. Gesucht wurden vielmehr breit ausgebildete Absolventen, die über möglichst viele Softskills verfügen: Selbstständiges, eigenverantwortliches Arbeiten und ein hohes Maß an Teamfähigkeit waren plötzlich wieder gefragt ...

Doch zurück zur ULB. Um das leibliche Wohlbefinden der Studierenden während der Arbeit zu sichern, hat die Bibliothek eine intensive Kooperation mit dem Studentenwerk begonnen. Neben den üblichen Kaffee- und Süßigkeitenautomaten gibt es nun auch einen Kiosk dort, wo ehemals die Buchausleihe war, an dem frisches Obst, Salate und frische Brötchen auf ihre Abnehmer warten. Wer möchte, kann sich sogar ernährungswissenschaftliche Tipps dazu geben lassen, welches Essen in anstrengenden Prüfungsphasen am bekömmlichsten für den Körper ist.

Da Studien bewiesen haben, dass allzu viel Selbstoptimierung - die zwischenzeitlich bei den Studierenden hoch im Kurs stand - wiederum das Gegenteil des anvisierten erfolgreichen Studierens bewirkt, hat die ULB einen Desoptimierungspark eingerichtet. Der Platz dafür konnte durch den Umzug der Juristen nach Gievenbeck gewonnen werden - das Juragebäude war über die Jahre alt und baufällig und viel zu klein geworden. Im Desoptimierungspark ist alles so eingerichtet, dass man mit völlig sinnfreien Aktivitäten den Kopf wieder frei bekommen kann. Wichtig für die heilende Wirkung der Desoptimierung ist, dass die Aktivitäten weder wettkampf- noch sportbetont sein sollten, damit sie nicht im Verdacht stehen, für den Ausübenden einen übergeordneten Sinn zu erfüllen; ihm also nicht etwa als Beitrag zur Erhaltung seiner Gesundheit daher kommen: Es gibt einige Wasserrutschen und Karussells, dazu Hüpfkissen, Jonglierutensilien, Flipperautomaten und einen kleinen Autoscooter. Auch einige Tiere leben hier in weitläufigen Gehegen, die man wie in einem Zoo betrachten kann.

Einen großen Coup hat die ULB mit dem Verkauf der Skulptur des lesenden Menschen, die heute im Lesesaal steht, gelandet. Da diese Skulptur im Laufe der Zeit aufgrund des allgemeinen Medienwandels kunsthistorisch sehr bedeutend geworden war, konnte auf einer Kunstmesse eine hohe Summe durch ihren Verkauf erzielt werden. Die ULB-Direktorin zeigte sich ihren Mitarbeitern ob dieser erfolgreichen Verkaufsaktion erkenntlich und spendierte allen eine Bildungsreise zu den wichtigsten Bibliotheken der Welt. Die ULB ist nun zwar um einen wertvollen Kunstgegenstand ärmer, dafür zeigten sich die Mitarbeiter nach der Reise durch die Vielzahl neuer Eindrücke so motiviert und inspiriert, dass sie an allen Ecken und Enden Verbesserungsvorschläge für die Einrichtung und Organisation der ULB einbrachten, die auf diese Weise einen großen Innovationsschub erlebte.

Davon abgesehen hatte der ständige Trubel durch die Kunstbesucher, die zur Betrachtung der Skulptur anreisten, die im Lesesaal arbeitenden Studierenden eh längst zur Weißglut getrieben ...

Bei all den Änderungen muss aber auch das betrachtet werden, das sich nicht geändert hat: Nach Abschaffung der Bücher und mit Einführung der Computerwundernutzung ist immer noch lediglich das Trinken aus Wasserflaschen erlaubt - die Technik der Computer konnte zwar wasserfest gebaut werden, reagiert aber auf Zucker und andere Getränkeinhaltsstoffe sehr empfindlich.

Auch das Verschließen der Spinde funktioniert immer noch ausschließlich über das Einwerfen eines Zwei-Euro-Stücks. Zwar sind Münzen und Scheine in Europa kürzlich abgeschafft worden (man zahlt nun überall mit Karte), andere Verschlusslösungen haben sich jedoch bisher als unpraktikabel erwiesen. So haben die Germanisten zwischenzeitlich für ihre Bibliothek Schränke angeschafft, bei denen man sich den genauen Standort und einen selbst ausgedachten Zahlencode merken musste. Da es jedoch im Alltagsleben aller Menschen absolut unüblich geworden war, sich irgendetwas merken zu müssen - dafür besaß man ja schlaue Telefone - musste ständig der Hausmeister ausrücken, um den verwirrten Studierenden beim Wiederauffinden ihrer eingeschlossenen Gegenstände zu helfen.

So blieb auch der ULB als einzig praktikable Lösung immer noch der Zwei-Euro-Spind ...

zu Vision 2
zu Vision 3

Kristina Rzehak

Kristina Rzehak studierte Deutsche Philologie, Kommunikationswissenschaften und Nordische Philologie in Münster und Skövde/Schweden. Sie schloss 2008 ihr Magisterstudium mit einer Arbeit über deutsch-usbekische Wörterbücher ab.
Seitdem arbeitet sie an einer Dissertation über Herrscherautobiographien bei Timuriden und Habsburgern. Von 2009-2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster Religion und Politik, seit 2013 ist sie an der Fachhochschule Bielefeld in der Schreibdidaktik tätig; daneben arbeitete sie in einem Kinderbuchverlag. Sie veröffentlicht zu ihren Forschungsthemen.