Als Glocken verstummten

Und wie der Klang im Ohr vergehet, der mächtig tönend ihr entschallt,
So lehre sie, daß nichts bestehet, daß alles Irdische verhallt.
Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke

Am 11. November 1918 beendete ein Waffenstillstandsabkommen zwischen dem Deutschen Reich, Frankreich und Großbritannien die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs. An den 100. Jahrestag dieses Ereignisses soll am 11. November 2018 weltweit durch Glockengeläut erinnert werden.

Seit 2014 wird das 100jährige Gedenken an den Ersten Weltkrieg von unzähligen Schriften, Ausstellungen, Aktionen und mit informativen Websites begleitet. Selbst in den Nachlässen der ULB Münster ist dieser Krieg immer wieder ein großes und bewegendes Thema. Auch wenn die ULB Münster zum Gedenken an das Kriegsende keine Glocken läuten kann, können wir dennoch mit neuerworbenen Dokumenten aus dem Nachlass Paul Sartori etwas zum Thema „Glocken und Weltkrieg“ beisteuern. Der leidenschaftliche Volkskundler Sartori hatte sich intensiv mit dem Thema „Glocken“ beschäftigt und etliche Informationen archiviert. Aus großer Not, wie sich beim Sichten der Nachlassdokumente herausstellte.

digitalisierte Postkarte
Abnahme der Reinoldiglocken in Dortmund 1917
© ULB

Aufgrund knapp werdender Metallvorräte hatte die Regierung des Deutschen Reiches im Frühjahr 1917 wieder mal einen Metall-Sammelerlass herausgegeben, der in diesem Jahr die Kirchengemeinden schwer traf. Kirchenglocken aus Bronze sollten katalogisiert und kategorisiert werden, um sie danach ggf. auszubauen und zu Munition einzuschmelzen. Was der Kategorie „A“ zugeordnet wurde, war sofort abzuliefern, die Kategorien „B“ und „C“ mit Glocken von geringer kultureller oder historischer Bedeutung wurden vorerst zurückgestellt, die Kategorie „D“ galt als schützenswert. Diese Glocken durften bleiben. Gutachter waren unterwegs, und oft regte sich der Volkszorn, wenn in den Gemeinden nur noch eine einzige kleine Glocke behalten werden durfte. Schul- und Rathausglocken waren ebenfalls betroffen. Es soll regelrechte Glockenfriedhöfe gegeben haben, auf denen das kriegswichtige „Metall“ bis zum Umschmelzen (u.a. zur Produktion von Granaten) gelagert wurde. Schätzungen gehen davon aus, dass während des Ersten Weltkriegs im Deutschen Reich und Österreich-Ungarn über 40.000 Glocken eingeschmolzen wurden.

Die volkskundlichen Vereine und der Verband der Vereine für Volkskunde im Deutschen Reich waren alarmiert und riefen sofort auf zur „Sammlung und Aufzeichnung alles dessen, was sich an Bräuchen und Sagen, Volksglauben und sprachlichen Bezeichnungen an die Glocken anknüpft“. Informiert wurden u.a. Behörden von Bundesstaaten, geistliche Behörden, wissenschaftliche Vereine, Lehrer und Geistliche. Ergebnisse dieses Aufrufes in Form schriftlicher Rückmeldungen an Sartori (einer der Unterzeichner) befinden sich nun im Handschriftenmagazin der ULB Münster. Paul Sartori hat später einen Teil der Meldungen zusammengefasst und als „Das Buch von deutschen Glocken“ 1932 veröffentlicht. Seine Nachlassdokumente liefern uns nicht nur Reichhaltiges zum Thema „Glocken“, sie geben auch einen Eindruck davon, wie mühselig das Sammeln und Auswerten solcher Informationen in der damaligen Zeit war.

Was das Verstummen der Glocken angeht, können wir die Betroffenheit der Bevölkerung nur ahnen. Einen Eindruck davon gibt Sartori in der Einleitung seines Buches mit folgendem Zitat aus den Lebenserinnerungen von Prof. Karl Bücher:
Ich habe kaum je die Schrecken des Krieges so lebhaft empfunden als am 21. Oktober 1918, wo wir die Leiche meines Bruders zum Friedhofe geleiteten und auf seinem letzten Gange die Klänge der einzigen zersprungenen Kirchenglocke über seinem Sarge wimmerten, die man der Gemeinde gelassen hatte. Fünf erwachsene Neffen schritten an meiner Seite, den sechsten wußten wir in der Türkei. Wie werden sie alle den gewohnten Glockenklang vermissen, wenn sie einmal wieder nach Kirberg zurückkehren. Es ist unsagbar, was der Krieg an solchen Gefühlswerten zerstört hat, und vielleicht wird ihnen länger nachgetrauert werden als den Mauern, die er zerschossen, und den Dörfern, die er in Trümmer gelegt hat.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden rund 90.000 Glocken in Deutschland und den besetzten Gebieten zum Einschmelzen gesammelt. Ca. 15.000 konnten nach Kriegsende doch noch gerettet werden.

Birgit Heitfeld-Rydzik

Karikatur Frieden Weihnachten 1984
Karikatur von Rudolf Schöpper, Weihnachten 1984
© ULB