Christian Gryphius:"Poetische Wälder, Der I. Theil"

Breslau und Leipzig 1718

In der historischen Lehrerbibliothek findet sich auch der Band "Poetische Wälder" von Christian Gryphius. Mancher Schüler kennt den Namen dieses Autors, in vielen Abiturprüfungen, ob mündlich oder schriftlich, taucht seine Dichtkunst auf. In allen Oberstufenkursen des schönen Faches Deutsch kommt seine Barocklyrik noch heute zum Zuge. Die aussagekräftigen Metaphern fallen einem ein, der Dreißigjährige Krieg, die "Tränen des Vaterlandes". Ernsten Gesichtes schlage ich dieses Buch auf, ehrfürchtig fast. Ein Juwel der deutschen Lyrik. Der Band ist ausgezeichnet erhalten. Obwohl er schon 282 Jahre zählt, ist das Papier samt Einband fest und griffig, sind die Verzierungen klar, die Buchstaben gut leserlich.

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Man blättert und stößt auf eine umfangreiche Widmung an den Landesherren: "Dem Hochund Wohlgebohrnen Herrn, Herrn Friedrich von Logau und Altendorf, Erbherrn auf Vorhauß u.s.w.", dann auf eine Vorrede des Autors. Man liest sich fest. Der Autor, Gryphius, beginnt mit einer Entschuldigung. Eigentlich hat er ja nicht mehr veröffentlichen wollen, aber "vornehme und vertraute Freunde" hätten ihn "angefrischet und ermuntert". Die Welt sei, das wisse er sehr wohl, mit "dergleichen Zeug überschwemmet" und man habe nunmehr fast "einen Eckel vor solchen Waaren". Dem Leser erscheinen diese Skrupel des Autors angesichts des Jahres (1718) doch eher erstaunlich. Ja, wenn sich die Anmerkung auf das Jahr 2000 bezöge.

Die grassierende Mode des übertriebenen Sprechens, so fährt Gryphius fort, habe er nicht fortgesetzt. Das sei affektiert. Er selbst habe sich immer um eine "ungezwungene Lieblichkeit" im Ausdruck bemüht. Und dann kommt ein Passus, der einem geradezu als Motto für die didaktische Auseinandersetzung der Neuzeit über die Sprachenfolge erscheinen kann:
"Wenn aber die ehrlichen Leute (...) bey den alten Griechen und Römern in die Schule gehen / und von ihnen etwas lernen möchten / So würde doch zum wenigsten gar wol gethan seyn / wenn sie die reine und zugleich hohe Schreibens-Art derer sich die Welschen im vergangenen Jahrhundert / und noch itzt die Franzosen bedienen / etwas mehr in acht nähmen/".
Wie wahr, wie wahr! Der Leser, selbst ein großer Verehrer des Französischen, betrachtet den altertümlich geschriebenen Text, der eine solch erstaunliche Modernität entfaltet, mit Erstaunen. Gryphius entschuldigt sich erneut dafür beim Leser, dass er "unserer schlesischen Mundart" nachgegeben habe, dass man außerdem seinen Werken, die er teils in "blühender Jugend" geschrieben habe, eine gewisse Schwäche verzeihen möge. Dass Gryphius überhaupt so etwas wie eine "blühende Jugend" gehabt hätte, das hätte ich als Germanistin aus den 60ern nicht vermutet.

Dann wird der Autor sogar schelmisch. Er habe so dieses und jenes verfasst, oft sei ein Auftrag zur ungünstigen Zeit an ihn herangetragen worden, und er habe ihn mehr schnell als gut erledigt. Das wisse er wohl. Außerdem enthalte die Sammlung so viel Theologisches, und es gäbe doch "manchen, der lieber etwas verliebtes lieset". Gryphius gesteht, dass seiner Stellung als Magister und seinem "nunmehr auf funfftzig Jahr loßgehende(m )s Alter die Galanterien wenig anstehen". Deshalb schreibe er jetzt eher Gedichte über Gott als über "Julien, Sylvien und dergleichen". Sehr vernünftig. Bob Dylan hat das in seiner letzten Platte auch gesagt. Offensichtlich hatte Gryphius Bedenken, dass seine Gedichte sich so nicht ganz so gut verkaufen. Deshalb führt er den Gedanken noch etwas aus. Auch "Gluth der Andacht" mache gute Poeten. Nicht nur die "geile Flamme der üppigen Venus". Bravo, Herr Gryphius. Das den heutigen Verlegern ins Stammbuch. In Zukunft wolle er aber nichts mehr schreiben, es sei genug,
"sintemalen das Feuer der Tichter eine große Verwandtniß mit der natürlichen Wärme zu haben scheinet / und / gleich wie selbige / bey zunehmenden Jahren mehr und mehr abnimmt."

Zu diesem Zeitpunkt der Lektüre empfindet der Leser bereits ein warmes Interesse an dem Dichter und eine große Neugier für seine so menschlich beschriebenen Produkte. Man beginnt zu blättern, hier und da. Man findet, allerdings auf der letzten Seite, ein Sonnett mit dem Titel: "Auf einen angenehmen Hund", weiter vorn stehen die Werke "Auf seiner Fr. Mutter Geburts-Tag", "Auf Hr. G. A. von Ebners künstliches Clavier", "Über Hr. Müllers himmlische Liebes-Flammen. Unter eines anderen Nahmen. An eine Hoch-Fürstliche Person" und schließlich, weiterhin im Abschnitt der "Sonnette" "Als er unter der Beicht-Andacht mit grimmigen Zahn-Schmerzen angegriffen wurde". Wäre "er" Gryphius selbst, so würde einem das regelrecht leid tun.

In der Mitte des Bandes finden sich mehrere Dutzend Seiten mit "Beyschrifften und Sinn-Gedichten". Hier eine Kostproben der barocken Pracht:
"Du kannst mir leicht / mein lieber Freund/ was tröstliches vorsagen / Du hast bey diesem Kummer nichts zu heben und zu tragen."
Das erscheint einem doch bekannt, ja geradezu zeitenthoben.

Auf der Seite 786 findet man ein hübsch gedrechseltes Gedichtchen über Kindererziehung, dann wieder ein mehrere Seiten langes Loblied des "Guckucks", ein Sujet, das ich auch nicht so ohne weiteres im Werk des großen Gryphius vermutet hätte. Ich beginne mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln die universitären Vorlesungen meiner Jugendzeit Revue passieren zu lassen. Wie kann das sein? Der Dichter des Weltuntergangs, der ewig schwarze Wolken und Elend verbreitende Poet, sollte er tatsächlich so profane Gedanken gehegt haben?

Nachdenklich geworden, blättert man noch einmal zurück und liest erneut das Vorwort an den Leser. Dieses Mal nimmt man noch ein Vorwort des Herausgebers wahr, hinter Gryphius eingerückt, im Jahre 1698 verfasst. Man liest mit Interesse, dass Gryphius 1649 zu Fraunstadt geboren sei, was früher in Schlesien, jetzt aber in Polen liege. Er habe ab 1668 die Universität in Jena besucht, dann ab 1670 die in Straßburg. Ab 1674 sei er als Professor für Latein und Griechisch am Gymnasium gewesen, ab 1699 auch als Bibliothekar. Seine Ehefrau, die nicht mit Namen erwähnt wird, wohl aber mit der Tatsache, dass sie ihm zwei Töchter und einen Sohn geschenkt habe und außerdem durch ihre "strenge Unpäßlichkeit" ihm, Gryphius, eine schwere Belastung gewesen sei, diese Ehefrau bleibt namenlos. Wohl aber wird von dem Enkel erzählt, der seine letzte Freude gewesen sei, von seiner ältesten Tochter geboren, die auch mit einem angesehenen Gymnasialprofessor verheiratet war. Keine Erwähnung findet ein Krieg.

Zum Ende seiner Vorrede formuliert der wackere Herausgeber noch eine besonders charmante und unkonventionelle Sicht auf den Autor:
"und man sich verwundern muß / wie er bey alle dem Elende / darüber er in seinen Gedichten gar mercklich lamentieret / mitten unter dem Schul-Staube / noch so schöne und unverbesserliche Poetische Gebuhrten ans Licht"
stellen konnte. Am 6. März 1706 sei er hochgeehrt an einem Schlaganfall in Breslau verstorben. Der Blick auf den Umschlag bestätigt den aufkeimenden Verdacht. Der Autor heißt Gryphius, aber Christian mit Vornamen, nicht Andreas. Der lebte auch von 1616 bis 1664, in Glogau. So rehabilitiert sich die Germanistik der 60er Jahre doch mit einem Schlag. Eigentlich schade.

Das Buch, das diese so überraschenden Einsichten in Leben und Werk dieses eher unbekannten Autors vermittelt, findet sich in der Bibliothek. Es bietet einen Blick in die zweite Reihe der Autoren am Anfang des 18. Jahrhunderts. Es wurde im Jahre 1839 der Schule von einem "Ungenannten" geschenkt. Wahrscheinlich hat der auch gedacht, er hätte ein Werk von Andreas vor sich. Christian oder Andreas, dies Buch ist einer der ungehobenen Schätze - um im Bild zu bleiben - die dort oben, direkt unter dem maroden Dach des Petrinum schlummerten.

Text: Andrea Fondermann