"Dir wird nichts passieren"

Ausstellungseröffnung mit der Shoah-Überlebenden Prof. Gertrude Schneider
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Prof. Gertrude Schneider, Wolfgang Suwelack und Dr. Beate Tröger, Direktorin der Universitäts- und Landesbibliothek
© ULB

„Als wir nach der Befreiung nach Wien kamen, um nach meinem Vater zu suchen, meinte unsere ehemalige Hauswärterin zu uns: ,Hab‘ ich doch gewusst, dass Ihr alle zurückkommt.´ Leider Gottes war es nicht so. Mein Vater kam nicht zurück.“ Der Vater von Prof. Gertrude Schneider war in Buchenwald von den Nazis ermordet worden, sie selbst, ihre Mutter und ihre jüngere Schwester gehörten zu den wenigen Juden, die die Massenvernichtung überlebten. Die heute 84-Jährige hat ihr Leben jener schrecklichen Zeit gewidmet, sie wurde Historikern, um Antworten auf die Fragen nach dem Warum und Wie zu erhalten. Damit auch künftige Generationen diese Fragen stellen, hat sie ihre Bibliothek der Wolfgang-Suwelack-Stiftung in Billerbeck geschenkt. Zu sehen ist ein Teil davon ab dem 28. Februar 2013 in der Galerie der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) am Krummen Timpen 3.

„Als Wienerin fühle ich mich in Münster zuhause“, sagt Schneider, die gestern aus den USA zur Ausstellungseröffnung heute Abend anreiste. Die Stadt ist ihr wohlvertraut und ans Herz gewachsen, seit sie das 2005 das erste Mal von Wolfgang Suwelack eingeladen worden war. Die Klasse einer Billerbecker Schule hat sich mit der Shoah beschäftigt und mit Unterstützung von Suwelack nach den Spuren münsterländer Kinder gesucht, die während der Nazi-Zeit verschleppt worden waren. „Der englische Brief, den die Schüler gebastelt hatten, weil sie wohl annahmen, ich spräche kein Deutsch mehr, traf mich aus heiterem Himmel“, erzählt Schneider. „Ich hatte schon resigniert, dachte, dass ich alles getan hätte, aber dieser Brief ist mir ans Herz gegangen. Was ist mit diesen Geschöpfchen geschehen, die damals so wie ich nach Riga deportiert worden waren?“

Schneider erinnerte sich an Namen und Schicksale. Dabei half ihr das Tagebuch, das sie im Alter von zehn Jahren begonnen hatte. Im Ghetto war sie als Läuferin eingeteilt, so kannte sie viele Namen. Freitag abends trug sie die Listen herum, mit denen zum weiteren Transport aufgefordert wurde. Freudig erwarteten sie die Betroffenen, glaubten sie doch, in eine bessere Zukunft zu kommen und nicht in ein Vernichtungslager. 

So wie ihr die Schicksale der kindlichen Opfer und das Bemühen der lebenden Schüler das Herz berührten, so tun das auch ihre Erzählungen. Eines Abends sollten die Kinder des Rigaer Ghettos abgeholt werden. Schneider ahnte, dass es besser wäre, der Aufforderung nicht zu folgen und befahl ihrer jüngeren Schwester, die Schuhe anzuziehen, aber nicht zuzubinden. So polterten sie die Treppe herunter und schlichen auf Socken wieder hinauf und versteckten sich in der leeren Kohlenkiste. Als die Häuser inspiziert wurden, hieß es, die Schwestern seien bereits unterwegs. „Als meine Mutter nach Hause kam, dachte sie, wir wären auch abgeholt worden. Sie schrie und fiel in Ohnmacht. Darauf bin ich sofort zu ihr gerannt.“

Diese Rettung hat sie ebenso in ihrem Tagebuch niedergeschrieben wie die Schrecken in den Lagern Kaiserwald und Stutthoff. Doch es ist nicht unter den 848 Büchern, die sie der Suwelack-Stiftung überlassen hat. Zerfetzt, um es besser verstecken zu können, zerfleddert und nur noch einzelne Worte zu lesen, will sie es auch nicht restaurieren lassen. Zu persönlich ist es ihr. Das mag auch daran liegen, dass es ihr von ihrem über alles geliebten Vater an ihrem Geburtstag geschenkt wurde. „Schreib‘ auf, was wichtig ist!“, sagte er, und das tat sie ihr Leben lang. Von ihr stammt die erste Gesamtdarstellung des Ghettos in Riga, basierend auf ihren Notizen. Das Standardwerk wurde von der Suwelack-Stiftung ein zweites Mal für den deutschen Markt mit dem Titel „Reise in den Tod“ herausgebracht.

In Wien hielt es die gebürtige Österreicherin nach 1945 nicht lange aus. „Es waren immer noch dieselben Menschen. Die Österreicher waren schnell die ersten Opfer Hitlers.“ Eine Woche, nachdem sie mit dem kleinen Rest ihrer Familie in die USA emigriert war, ging sie bereits wieder in die Schule. „Vielleicht war auch ein wenig Eitelkeit dabei, weil ich wieder die erste in der Klasse sein wollte“, erinnert sie sich schmunzelnd. Keine Bitterkeit, keine Härte ist zu spüren, wenn die Historikern erzählt, nur Lebensleichtigkeit, gepaart mit Wehmut. Wie ihr denn die Ausstellung gefällt, die sie gestern zum ersten Mal gesehen hat? „Ich bin überwältigt.“ Sie schweigt einen Moment. „Ich kann gar nicht sagen, wie erschüttert ich innerlich bin. Ich wünschte nur, dass meine Eltern das noch erlebt hätten.“

Die Agentur „Zeit.Raum“ hat gemeinsam mit der Villa ten Hompel, in der die Bücher künftig verfügbar sein werden, und der Suwelack-Stiftung ein Erlebniskunstwerk geschaffen. In vier Bücherregalen werden die Themenbereiche präsentiert. Besucher können die Bücher von Gertrude Schneider – darunter das Drehbuch zum Film „Shoah“ von Claude Lanzmann, in dem sie mit ihrer Mutter zu sehen ist, „The Destruction oft he European Jews“ oder „Die Akte Odessa“ – heraus-nehmen und setzen damit eine Medieninstallation in Gang, bei der Schneider die Bedeutung des jeweiligen Buches für ihr Leben erklärt. Aufgrund der Zusammenstellung „sprechen“ die Bücher mit dem Betrachter und machen einmaliges Leben nacherlebbar.

Bei der Ausstellungseröffnung in Anwesenheit von Prof. Schneider am 28. Februar um 19 Uhr im JUR1, Universitätsstr. 10-12, sind Brillenträger besonders willkommen: „Als ich ein kleines Mädchen war, so etwa fünf Jahre alt, musste ich in der Hebräischschule ein Gedicht aufsagen. Ich war schrecklich nervös. Da sagte mein Vater zu mir: ,Ich werde hinten an der Wand stehen und Dir wird nichts passieren.´ Da stand er, und in seinen Brillengläsern spiegelte sich das Licht. Wenn ich heute Vorträge halte, dann schaue ich, ob sich in einer Brille das Licht bricht. Und dann ist mein Vater bei mir.“

Öffnungszeiten ULB-Galerie:
28. Februar bis 16. März
mittwochs von 9 bis 13 Uhr,
donnerstags und freitags von 14 bis 18 Uhr
und samstags von 12 bis 16 Uhr.
Danach kann die Ausstellung, die als Wanderausstellung konzipiert ist, bei der Villa ten Hompel ausgeliehen werden.

Weitere Informationen:
Wolfgang-Suwelack-Stiftung
Villa ten Hompel