Von "Barbarossa" bis "Zitadelle"
Die ULB Münster bekam aus dem Nachlass Paul Stöcker (1914–2010) im Februar 2016 u.a. vier Fotoalben geschenkt, die dieser nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengestellt hatte.
Der Zollbeamte dokumentierte seine Militärzeit von 1939 bis 1945 in Tagebuchaufzeichnungen und fotografierte, wo immer es ihm möglich war. Seine Kodak-Kamera begleitete ihn durch den Zweiten Weltkrieg, Filmrollen wurden beim Heimaturlaub zum Entwickeln gegeben, selbst interessante Dokumente seiner Militärtätigkeit wurden in die Heimat „geschmuggelt“. Sowohl die Fotoalben als auch Stöckers Tagebücher bis hin zu sonstigen Lebensdokumenten werden nun in der ULB aufbewahrt und Interessierten zur Verfügung gestellt. Mit dem Nachlass Paul Stöcker hat sich ein bewegendes Zeitzeugnis erhalten. Die vier Fotoalben veröffentlichen wir im Rahmen des 75. Jahrestages des Unternehmens „Barbarossa“ in unseren Digitalen Sammlungen.
Hitlers Russlandfeldzug, sowohl ideologischer Weltanschauungskrieg gegen den Bolschewismus als auch rassebiologischer Vernichtungskrieg, sollte der Eroberung von Lebensraum im Osten dienen. Wirtschaftliche Ausbeutung der eroberten Gebiete und Vernichtung nicht nur jüdischer Bevölkerungsgruppen waren geplant.
Ab dem 22. Juni 1941 griffen deutsche Truppen auf einer Front von der Ostsee bis zu den Karpaten die unvorbereitete Sowjetunion an. Planungen dieses Unternehmens „Barbarossa“ sahen vor, dass drei Heeresgruppen schnell nach Osten vorstoßen sollten. Die Heeresgruppe Nord kam vor Leningrad zum Stillstand, die Stadt ließ sich nicht einnehmen. Die Heeresgruppe Mitte erzielte trotz verlustreicher Schlachten riesige Raumgewinne und bildete zusammen mit der Heeresgruppe Süd im Spätsommer 1941 eine zusammenhängende Front. Gegen Ende 1941 waren das Baltikum, Weißrussland und große Teile der Ukraine von deutschen Truppen besetzt. Der geplante Angriff auf Moskau wurde durch Führerbefehl gestoppt, Hitler wollte zuerst die wirtschaftlich wichtige Ukraine erobern. So startete die Moskauoffensive verspätet im Oktober 1941, blieb buchstäblich im herbstlichen Schlamm stecken und wurde mit Winterbeginn „auf Eis“ gelegt. Schneemassen und eisige Temperaturen setzten den schlecht ausgerüsteten deutschen Truppen gewaltig zu, Notmaßnahmen im Deutschen Reich, wie das Sammeln von Wintersachen, halfen nur wenig. Bereits Ende 1941 hatte die deutsche Armee riesige Verluste (200000 Tote und 620000 Verletzte) zu verzeichnen, bei Kriegsende 1945 sollen es insgesamt 3,5 Millionen tote deutsche Soldaten gewesen sein.
Mit der deutschen Besetzung der Sowjetunion setzten systematische „Säuberungsaktionen“ in den eroberten Gebieten ein. Juden, Sinti, Roma, kommunistische Funktionäre und Partisanen fielen Massenhinrichtungen zum Opfer. Freude über die Befreiung vom Kommunismus in einigen besetzten Gebieten schlug um in Hass und einen blutigen Partisanenkrieg.
Nach der Winterschlacht 1941/42, der Sommerschlacht 1942, der Schlacht von Stalingrad 1942/43 wurden im Februar 1943 alle Ressourcen des Deutschen Reiches mobilisiert, um den Krieg gegen die Sowjetunion doch noch zu gewinnen. Das Unternehmen „Zitadelle“ – mit der mutmaßlich größten Panzerschlachte der Geschichte – endete mit einer Niederlage der Wehrmacht. Die Rote Armee war materialmäßig überlegen und ließ sich in ihrem Rückeroberungswillen nicht mehr aufhalten. Mit der Sommeroffensive 1944 gelangte sie bis an die Grenzen des Deutschen Reiches, riesige Flüchtlingstrecks vor sich her treibend.
Am 8. Mai 1945 war dieser sinnlose Krieg zu Ende.
Das Kriegsgeschehen hat Paul Stöcker in seinen Fotos festgehalten, von anfänglichen Truppenübungen in Deutschland über die Besetzung Frankreichs, den geplanten Überfall auf Groß Britannien, den Aufmarsch im Osten bis hin zum Einmarsch in die Sowjetunion, die sinnlosen Zerstörungen, Verwundungen und Kriegsgefangenschaft, vieles wurde fotografiert. Nach den Fotos von Gebietseroberungen folgen Aufnahmen vom Stellungskrieg (auch an der Rollbahn nach Moskau), von Schlammschlachten, Schneestürmen, von Bunkern, Panzern und Geschützen aber auch vom „Alltagsleben“ der Soldaten und der Zivilbevölkerung. Bunkereinrichtung, Truppenunterhaltung, Zwangsarbeit, Propaganda, Partisanen, Kollaborateure, Schulungen von Ersatztruppen, das schwierige Überleben und die Toten, vieles wurde von Paul Stöcker fotografisch dokumentiert, in seinen Tagebüchern kommentiert und somit der Nachwelt erhalten.