Anni und der Kluxen-Klan

Ja, wenn man selbst mitmacht u. oft hinter die Kulissen sieht, dann weiss man, dass fast alles in der Welt Komödie ist.
Anni Höing
Foto: Familie Topheide
Anni, Aloysia, Hermann und Friederike Topheide (nach 1900)
© ULB

Tagebücher sind interessante Zeitzeugnisse, auch wenn sie manchmal recht individuelle „Fakten“ enthalten. Mit dem Nachlass von Anna Höing (1894–1974), geborene Topheide, erhielt die ULB Münster in diesem Jahr vier Tagebücher, in denen Anni oder Änne, wie sie genannt wurde, ab ihrem 13ten Lebensjahr wichtige Ereignisse und Alltäglichkeiten schilderte und somit ein Münsteraner Frauenleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dokumentierte.

Berührend sind die „Backfisch“-Schwärmereien der Heranwachsenden, Szenen aus dem nicht konfliktlosen gesellschaftlichen Miteinander in Münster und später dann die Erzählungen aus dramatischen Krisen- und Kriegszeiten. Besonders interessant sind aber auch Annis Schilderungen ihrer Lehr- und Arbeitsjahre in der Firma Kluxen – ein Textilkaufhaus am Prinzipalmarkt. Wie wir mittlerweile wissen, war Franz, der einzige Sohn des damaligen Inhabers Bernhard Kluxen, seinerzeit einer der größten Kunstsammler der Moderne, der erste Deutsche, der einen Picasso kaufte. Und wenn er nicht in Krisenzeiten seine außergewöhnliche Sammlung hätte verkaufen müssen, gäbe es in Münster heute womöglich eine andere Art von Picasso-Museum.

Der junge Franz Kluxen lebte natürlich von dem Geld, das sein Vater mit dem Kaufhaus erwirtschaftete. Mit Anni Höing können wir nun einen Blick hinter die feinen Geschäftskulissen tun. Bernhard Kluxen galt als geizig und war wohl bei etlichen Angestellten sehr unbeliebt und gefürchtet – nicht zuletzt wegen seiner Launen: … Unser Herr Chef war mal wieder recht schlechter Laune, man konnte ihm nichts recht machen. Weiss der Himmel, was ihn drückt. Er fühlt sich gesundheitlich wohl auch nicht mehr so wie früher u. das ist ihm sicher ein Dorn im Auge; da überlegt er sicher, ob es sich nicht auch machen lässt, falls Gevatter Tod kommt, den Geldsack mit in die Ewigkeit zu schmuggeln.

Der schöngeistige Sohn und Erbe Franz Kluxen ließ sich selten zuhause blicken, er war ständig in der Welt unterwegs. Zuhause hatte mutmaßlich seine Mutter, die gnädige Frau Kluxen, die Hosen an. Bei Anni liest sich das folgendermaßen: Seit Montag arbeite ich nun schon in Kluxens Villa an der Bücheraufnahme des Sohnes unseres Chefs. Da ist wirklich die vollendete Buchhandlung vorhanden. Vom kleinsten Märchen bis zum schönsten Roman, sämtliche Werke aller berühmten Männer von den schmuzigsten Sachen bis zu den frommen, tiefreligiösen Büchern, sind Eigentum dieses ewigen Studenten, der seine Villa „Weisses Haus“ auf der Insel Föhr besitzt. Wenn der auch den zehnten Teil dieser Bücherweisheit im Kopf hat, dann kann er sich hören lassen; ich glaube aber dem genügt es, wenn die Bücher mit Prachteinbänden seine Zimmer schmücken. Nun muß ich auf Frau Kluxens Verordnung von jedem Buch Namen des Verfassers, des Verlegers u. den Titel notieren, damit ihr Franz ein Register über seine Weisheit bekommt. Oft hilft Frau Kluxen. Ihr Mann kam auch herein u. machte ihr Vorwürfe, er könne mich im Geschäft nicht tagelang für ihre Einfälle entbehren. Sie sagte ihm einfach: „Hier habe ich zu sagen, kommandiere du im Geschäft.“ Eine schöne Ehe ist das.
… Zwischen all’ den vielen Büchern komme ich mir entsetzlich dumm vor, wie gern möchte ich auch recht viel wissen. Ab und zu sehe ich mal in ein Buch hinein, wenn es meine Zeit erlaubt. So traf ich ein Buch von der erotischen Literatur an. Kaum hatte ich einen Blick hineingeworfen, da warf ich das Buch schon soweit als ich nur konnte u. nach einer halben Stunde habe ich es mir wiedergeholt u. bedauerlicherweise feststellen müssen, dass das Sprichwort: „Schiller, Goethe, Heine das sind die deutschen Schweine“ auf Wahrheit beruht.
… In den letzten Tagen war ich auch wieder in der Villa Kluxen tätig. Herr Franz Kluxen, der sonst fast immer auf Reisen oder in seinem „Weissen Haus“ in Wyk auf Föhr ist, war zu Hause. Ab u. zu steckte er seinen Kopf durch die Tür, dann setzte er sich wieder ans Klavier u. spielte u. pfiff dazu. Auch ein rechter Lebemann u. ewiger Student. Ja, unser Chef erzieht die Kinder anderer Leute, seine eigenen kann er nicht erziehen!

Hier spielte Anni Höing darauf an, dass Bernhard Kluxen die ihm anvertrauten Auszubildenden äußerst streng zu behandeln pflegte: Wie ist es doch komisch, daß man sich für ein kleines Stück Geld ganz u. gar in den Dienst anderer Menschen stellen muß u. trotz größten Fleißes nie ein Lob u. ein freundlich Wort bekommt. Bisher habe ich Herrn August u. den Chef entsetzlich gefürchtet, nun kommt der Hass hinzu.

Foto: Anni Topheide am Schreibtisch
Fräulein Anni Topheide an ihrem Schreibtisch bei der AEG Münster (ca. 1915)
© ULB

Anni kündigte bei Kluxen, als ihr 1915 eine gut bezahlte Stelle bei der AEG in Münster angeboten wurde: Also, meine Stelle bei Kluxen habe ich am 1.cr. gekündigt, trotzdem unser Chef Mutter mit allen Mitteln überreden wollte, mich dort zu lassen. Auf eine Annonce in der Zeitung hin habe ich, trotzdem mir der Chef noch kein Zeugnis ausstellen wollte, neben 60 Bewerberinnen die Stellung als Beamtin bei der Allg. Elektr. Ges. bekommen u. muss dieselbe am 1. März antreten.
Die veränderten Arbeitsbedingungen bei der AEG wurden von ihr als wesentliche Verbesserung empfunden. Die hellen Büroräume im AEG-Gebäude, im Gegensatz zu Kluxens dunklem Hinterhof und Kellerräumen, wurde von ihr gelobt. Ihr Gehalt war so hoch, dass sie davon ihre Familie besser hätte unterhalten können, als ihr Ehemann Hubert Höing das lange Jahre konnte. Mit der Eheschließung musste sie dann allerdings ihre Stelle aufgeben, wie das damals üblich war.

Was die Familie Kluxen angeht, erfahren wir auch noch Interessantes von Anni Höing über Bernhard Kluxens Verhalten in den Notjahren des Ersten Weltkriegs. So schrieb sie im April 1916: Sogar mein früherer Chef Bernh. Kluxen, der auch so ein Ehrenamt nebenbei hat u. an den Versorgungsstellen, wo die Lebensmittel gegen Karten zu holen sind, ab u. zu sich blicken lässt um später dann einen Orden zu bekommen, ist so ein Schuft! Er hat zu den Leuten dort gesagt, sie sollten nur froh sein, dass sie überhaupt noch was bekämen, sie müssten noch Baumrinde nagen!!!

Kluxens Verhalten sollte sich im Sommer 1919 rächen: Im Hochsommer haben eine Unmenge dem Hause der Fa. Bernh. Kluxen einen Besuch abgestattet um Herrn B. Kluxen mit dem Schild auf dem Rücken: „Ich bin der grösste Lump von Münster“, in ihrer Mitte durch die Stadt zu führen. Er hatte sich aber verdrückt u. in der Wut darüber wurden sämtliche Fensterscheiben zertrümmert u. der Inhalt mitgenommen. Militär musste kommen u. mit Maschinengewehren Ordnung schaffen.
„Heraus mit dem Lump, er soll nun seine Baumrinde fressen!“ Der Münst. Blutsauger u.s.w. Man erzählte die schönsten Sachen über den Fluchtversuch u. die Angst von B. Kluxen u. seiner Frau. Er hat sich nicht wieder in Münster sehen lassen. Das Geschäft hat nun sein Bruder August, er selbst hat sich irgendwo im Süden eine Besitzung gekauft.

Anni Höings Tagebucheintragungen sind spannende Zeitzeugnisse aus Münsters bewegter jüngerer Geschichte.

Birgit Heitfeld-Rydzik