„Der Stummfilm „Raja Harishchandra“ über einen mythologischen König markiert den Beginn des indischen Kinos. 110 Jahre später ist Indien der wohl größte Filmproduktionsstandort der Welt.
Dadasaheb Phalke ist ein Mann mit Visionen. Der Landschaftsmaler, Fotograf und Zauberkünstler sieht 1911 einen französischen Stummfilm über das Leben von Jesus Christus, der ihn elektrisiert: Was, wenn statt Jesus die indischen Gottheiten auf der Leinwand erscheinen?
„Ich war von einem sonderbaren Zauber gepackt. Ich kaufte mir ein weiteres Ticket, um den Film noch einmal zu sehen. Dieses Mal fühlte ich, wie meine Vorstellungskraft auf der Leinwand Gestalt annahm. Könnte das Wirklichkeit werden? Könnten wir, die Söhne Indiens, jemals indische Bilder auf der Leinwand sehen?“ (Dadasaheb Phalke)
Filmpionier gegen den Rat der Freunde
Dadasaheb Phalke stört es, dass in Bombays Kinos nur ausländische Filme gezeigt werden. Er besorgt sich eine Kamera und beschließt, selbst einen Film zu drehen — obwohl ihn sogar seine besten Freunde für verrückt erklären. Seinen Stoff nimmt er aus dem indischen Nationalepos „Mahabharata“.
Die Legende über den aufrechten König Harishchandra ist in Indien äußerst beliebt. So wird Phalkes Stummfilm „Raja Harishchandra“ auch deshalb ein Erfolg, weil er zum ersten Mal eine Geschichte im Kino zeigt, die dem indischen Publikum vertraut ist.
Geburtsstunde der indischen Filmindustrie
Schon die erste öffentliche Vorstellung am 3. Mai 1913 im Coronation Cinema in Bombay stößt auf so viel Begeisterung, dass schnell weitere Kopien angefertigt werden. Die Vorführung gilt als Beginn der indischen Filmindustrie, die schnell wächst und heute von der Anzahl der produzierten Filme her als größte der Welt gilt.
Europäer und Amerikaner ohne Interesse am indischen Publikum
Die Form, mythologische Stoffe in filmischer Form aufzubereiten, erweist sich als außerordentlich populär und erschließt ein Publikum, an dem die amerikanischen und europäischen Filmindustrien auch gar nicht so wahnsinnig interessiert ist, erklärt Vinzenz Hediger, Professor für Theater‑, Film und Medienwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt.
Indische Filme werden quietschbunte Wundertüten
Dadasaheb Phalke selbst dreht noch rund hundert weitere Streifen zu mythologischen Themen. In den 1920er-Jahren entstehen allerdings zunehmend andere Genres — und das indische Kino wird kommerzieller.
Mit dem Tonfilm kommen die Songs und Tanzeinlagen dazu, die auch das indische Theater prägen. Außerdem spielen von Anfang an die neun Rasas aus der klassischen Ästhetik eine Rolle: Jedes Werk soll Liebe, Humor, Pathos, Tapferkeit, Wut, Schrecken, Abscheu, Wundersames und Friedvolles enthalten. So sind indische Filme oft quietschbunte Wundertüten mit emotionalen Berg- und Talfahrten.
Viel mehr als nur „Bollywood“
Der Begriff „Bollywood“, der sich aus Bombay und Hollywood zusammensetzt und meist für bonbonbunte Romanzen mit Gesangs- und Tanzeinlagen verwendet wird, ist in Indien allerdings nicht sonderlich beliebt. Und er wird auch der Vielfalt der indischen Filmproduktion nicht gerecht.“
(WDR, Christiane Kopka, Matti Hesse)
Sie können die Sendung, die am 3.5.2023 in der Reihe „ZeitZeichen“ lief, über die Seite des WDR nachhören oder als Audiodatei herunterladen.