091 GERTRUDIS <DE HELFTA>:
Gertrudenbuch oder: geistreiches Gebetbuch :größtentheils aus den Offenbarungen der heiligen Gertrud und Mechtild gezogen ; nebst einem sehr nützlichen und trostvollen Unterrichte über das Gebet ... ; mit Illustrationen.
- 11., durchaus verm. und verb. Aufl. - Regensburg : Manz, 1865. - 524 S. : Ill.
Nebent.: Gebetbuch der heiligen Schwestern Mechtildis und Gertrudis
Signatur: 2092


Das hier gezeigte, so genannte Gertruden-Gebetbuch aus dem Westerholt’schen Familienbesitz ist ein Beispiel für ein im 19. Jahrhundert beliebtes, weit verbreitetes Andachtsbuch, das die private Frömmigkeit vieler Christen prägte und in zahlreichen Ausgaben zur Verfügung stand.


Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ein redaktionell überarbeitetes Konglomerat von Gebetstexten aus Gertrud von Helftas Legatus divinae pietatis und ihren Exercitia spiritualis und dem Liber specialis gratiae von Mechtild von Hackeborn. Genaugenommen gehört es damit nicht zu den originären Werken von Gertrud von Helfta. Dennoch hat es eine wirkungsgeschichtlich große Bedeutung erlangt, weil es den Bekanntheitsgrad dieser großen deutschen Mystikerin deutlich erhöhten konnte.


Gertrud von Helfta kam um 1260 im Alter von fünf Jahren als Waise in das Zisterzienserinnen-Kloster zu Helfta. Dort erhielt sie im Laufe der Zeit von der Äbtissin Gertrud von Hackeborn eine gediegene wissenschaftliche und spirituelle Ausbildung. Zusammen
mit den Mystikerinnen und Mitschwestern Mechtild von Magdeburg und Mechtild von Hackeborn hatte Gertrud einen erheblichen Anteil an der Herausbildung der deutschen Frauenbildung und -mystik des Mittelalters. In einer Zeit innerer Konflikte konnte Gertrud in einer Christusvision eine intensive Gotteserfahrung machen, die für sie Anlass war, sich künftig ausschließlich mit der Heiligen Schrift und den Kirchenväterschriften zu beschäftigen. Ihre meditativ-ekstatischen Erfahrungen schrieb sie in insgesamt fünf Schriften nieder, in denen eine konzentrierte Brautmystik mit der besonderen Verehrung des Herzens Jesu zum Ausdruck kommt. Vor dem Hintergrund einer tiefen liturgischen Frömmigkeit will Gertrud die Menschenliebe Gottes, die durch das Herz Jesu symbolisiert ist, in ihrer eigenen Zuwendung zu den Menschen zur Darstellung bringen. Die wahre Christusnachfolge jedoch sieht sie im freiwillig angenommenen Leiden. Vorbild leidender Nachfolge ist für Gertrud die Gottesmutter Maria, die sie als rosa mystica verehrt. Sowohl ihre Marien- als auch ihre Herz Jesu- Frömmigkeit übten Jahrhunderte lang einen Einfluss auf die katholische Frömmigkeit aus, wie die zahlreichen Neuauflagen des Gertrudenbüchleins zeigen.
Als das Proprium mittelalterlicher Frauenmystik gelten heute weithin ekstatisches Erleben von Visionen und Erscheinungen sowie emotionales Fühlen der Gegenwart Gottes mit allen leiblichen und seelischen Kräften. Dabei wird oft übersehen, dass gerade die Verbindung von Vernunftdenken und Emotionalität eine wesentliche Eigenschaft der Mystik von Gertrud von Helfta ist. Damit wird das schablonenhafte Denken mancher Wissenschaftler, dass nämlich der Bereich der Emotionalität eher der weiblichen Mystik zugehöre und der Bereich der Ratio der männlichen, in Frage gestellt. Meistens treten beide Elemente weder bei Frauen noch bei Männern isoliert voneinander auf, so dass eine geschlechterspezifische Trennung der praktischen von der theoretischen Mystik nicht gerechtfertigt erscheint.


Die Frauen von Helfta haben in ihrer Mystik nach einer Antwort auf die ungelösten Rätsel des Lebens gesucht und wurden dabei mit der Heiligkeit der eigenen Existenz vor Gottes Angesicht konfrontiert. Hierbei handelte es sich nicht um irgendein Geheimwissen ohne Bezug zum Alltag, sondern vielmehr um das Aufdecken von Irrwegen und Scheitern und das Suchen von Zielpunkten mit lebenspraktischer Bedeutung. Vor dem Hintergrund des eigenen Erlebens von Krankheit, Tod und Versagen waren die Frauen von Helfta verbunden mit den Menschen ihrer Umgebung und betrieben in der Auseinandersetzung mit Lebenskrisen aktive Seelsorge. Deshalb kann man von ihrem priesterlichen Dienst sprechen. Ihre Sprachkraft zeigte sich darin, dass sie zu Gebetsworten gefunden haben, die noch Jahrhunderte lang nachwirkten. In Not und Bedrängnis die Anliegen der Menschen vor Gott und Gottes Anliegen an die Menschen zur Sprache zu bringen, gelang den Mystikerinnen von Helfta so, dass ihr Weg der Gottsuche noch im 19. Jahrhundert Vorbild der Frömmigkeit sein konnte.
M.M.