Spuren des Reichskammergerichts in der Bibliotheca Petrina?

Studien zu einem juristischen Fachbuch aus der Mitte des 16. Jahrhunderts

Wenn man nach den Fundamenten fragt, auf welchen das Gebäude unserer abendländischen Zivilisation ruht, so stösst man auf die großen geistigen Überlieferungskomplexe der griechischen beziehungsweise römischen Sprache, Literatur und Philosophie des jüdisch-christlichen Monotheismus, der indisch-arabischen Mathematik bzw. Naturlehre sowie des Römischen Rechts. Neben dem Christentum ist es gerade das jus Romanum in Gestalt des Corpus Juris Civilis, ohne welches das vielzitierte «gemeinsame europäische Haus» eine seiner tragenden Säulen verlieren würde. Diese große Kodifikation des (ost-) römischen Kaisers Justinian wird zwischen 529 und 534 n. Chr. schrittweise veröffentlicht (Anmerkung 1) und wirkt nahezu ungebrochen aus der (Spät-) Antike in die Gegenwart hinein. Zu beachten ist dabei, dass das jus civile ursprünglich das Regelwerk ist, im Rahmen dessen die Inhaber des römischen Bürgerrechts (die sog. cives) ihre privaten Rechtsgeschäfte gestalten – von da aus weitet sich der Begriff schließlich zum bürgerlichen Recht oder Zivilrecht im allgemeinen.

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Es ist von jeher unstreitig, dass erst die römischen Juristen der Welt die Vorstellung vom Recht als einem geschlossenen, wissenschaftlich formierten Denkgebäude gegeben haben. Ihre hochentwickelten Rechtsvorstellungen über Schuld- und Vertragsverhältnisse, über Schadensersatz, Testament, Erbschaft und Erbfolge, Pfand, Besitz und Eigentum werden Grundlage und Gemeingut unserer Kultur. (Anmerkung 2) Fast alle west- und mitteleuropäischen Zivilrechtsordnungen berufen sich daher traditionell auf gemeinsame römisch-antike Wurzeln. Schon die spätmittelalterlichen Juristen, denen dieser Sachverhalt natürlich noch viel deutlicher vor Augen stand, sprechen vom Römischen Recht stets als dem jus commune, dem gemeinschaftsstiftenden, «gemeinen Recht», welches das europäische Rechtswesen erst auf einen Nenner bringt. Für die alten Rechtsgelehrten ist das jus Romanum die ratio scripta, die schriftgewordene Vernunft schlechthin.

Die gemeinsamen Wurzeln des europäischen Rechts lassen sich überlieferungsgeschichtlich sehr konkret fassen. Eine zunächst in Pisa, ab 1409 in Florenz und seit 1783 in der dortigen Bibliotheca Medicea-Laurenziana aufbewahrte Handschrift der sog. Digesten (griechisch: Pandekten, Kernstück des Corpus Juris Civilis) bildet den Ausgangspunkt für die neue Blüte des Römischen Rechts – zunächst in Italien, dann auch in Deutschland und im übrigen Westund Mitteleuropa. Diese originär aus der Spätantike stammende lateinische Pergamenthandschrift reicht möglicherweise bis auf wenige Jahrzehnte an die erwähnte Entstehung und Veröffentlichung des Corpus Juris Civilis unter Kaiser Justinian heran und bildet für die alteuropäische Rechtswissenschaft den Dreh- und Angelpunkt bei der Auseinandersetzung mit dem römischen Erbe. Dieses uralte Manuskript, das nach seinem Aufbewahrungsort einfach die Florentina genannt wird, ist somit das Ur-Exemplar des Justinianischen Rechtscorpus überhaupt, aus dem sich seit Mitte des 12. Jahrhunderts alle nachantike Textüberlieferung und wissenschaftliche Auseinandersetzung ableitet.

Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), in Kraft getreten am 1.1.1900, stellt ein besonders ausgeprägtes Beispiel für eine neuzeitliche Rechtskodifikation dar, die ohne das Römische Recht wesentlichste Stoffe und Inhalte verlieren würde. Rechtshistoriker arbeiten gerne mit der Faustregel, dass ca. 80% der Materien des BGB direkt oder indirekt dem antiken römischen Recht entnommen sind. Mehr als die anderen nationalen Rechtssysteme im neuzeitlichen Europa hat das deutsche bürgerliche Recht seine römischen Wurzeln beibehalten – nur das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1907/1912 (ZGB) ist in dieser Hinsicht dem BGB ebenbürtig. Ist also unser heutiges Zivilrecht das Ergebnis einer 2000-jährigen, nahezu ununterbrochenen Kontinuität, so stellt sich die Frage nach dem Hergang dieser Entwicklung speziell in Deutschland. In der Literatur taucht dabei stets der Fachbegriff der sog. ‚Rezeption’ des Römischen Rechts auf, der die Aneignung und Aktualisierung der gewaltigen Rechtsmassen des justinianischen Corpus Juris Civilis im späten Mittelalter beschreibt.

Die Rezeption beschreibt also den Siegeszug des Römischen Rechts im Hl. Römischen Reich Deutscher Nation seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, nicht mehr allein an den Universitätslehrstühlen mit ihren Gutachter und Spruchtätigkeiten (Anmerkung 3), sondern auch in routinemäßiger Ausübung und Jurisdiktion bei immer mehr Gerichtshöfen und Rechtsprechungsinstanzen, wobei die Installierung des Reichskammergerichts (im folgenden RKG abgekürzt) als höchstes deutsches Gericht im Jahre 1495 als ein Wendepunkt in der Rechtsgeschichte Deutschlands gesehen wird. Als ein wahrer locus classicus gilt dabei die Eidesformel der ältesten Ordnung des RKG vom 7.8.1495 (Anmerkung 4), nach welcher die dortigen Richter und Beisitzer nach des reiches gemeynen rechten immer dann zu urteilen hätten, wenn das von den Streitparteien vorgebrachte Orts- und Landesrecht nicht einschlägig ist: hier ist wahrlich die Rezeption am Werk. Das RKG wird im Zuge der Reichsreform, d.h. im Rahmen der Modernisierung der durch die Goldene Bulle von 1348 gewährleisteten Reichsverfassungsordnung, als letztinstanzliche Befriedungs- und Schlichtungsinstanz für Untertanen, Fürsten, Kirchen und Korporationen installiert und arbeitet bis 1806. Das RKG ist ein Meilenstein auf dem Wege zum deutschen Rechtswege- und Rechtsmittelstaat, hauptsächlich werden dort zivilrechtliche Streitigkeiten entschieden.

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Gerichtsort ist bis Ende des 17. Jahrhunderts Speyer, nach den pfälzischen Eroberungskriegen König Ludwigs XIV. schließlich Wetzlar, wo rund 100 Jahre später auch ein angehender junger Jurist mit auffälligen literarischen Neigungen namens Johann Wolfgang von Goethe ein sechsmonatiges Praktikum absolvieren wird. In Zeiten langwieriger politischer und militärischer Konflikte innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation steht das RKG unter der damals wie heute hochaktuellen Devise: „Frieden durch Recht“. Dieser «supreme court» des alten Deutschen Reiches vereinigt Rechtsprechungsfunktionen in sich, die heute teilweise vom Bundesgerichtshof, vom Bundesverfassungsgericht oder vom Bundesverwaltungsgericht wahrgenommen werden. Die Bandbreite von Rechtsstreitigkeiten am RKG reicht von brisanten politischen Prozessen bedeutender Territorialfürsten bis hin zu einfachen Klagen und Rechtsmitteln von Privatpersonen und Untertanen. Wie oben zitiert wendet es dabei von Anfang an das wissenschaftlich durchdrungene, kommentierte und erforschte Römische Recht an, das sich in komplizierten, umfangreichen Schriftsätzen und schwer verständlicher Fachliteratur äußert – nicht anders mutet der Rechtsbetrieb an heutigen deutschen Gerichten an!

Das Verfahrensrecht am RKG ist der mündlichen Kultur des durch Schultheiße und Schöffen gepflegten deutschen Rechts haushoch überlegen. Im processus cameralis ist von Anfang an die sog. Schriftlichkeitsmaxime in Geltung, es heißt dort unmißverständlich: quod non est in actis, non est in mundo bzw. quod non legitur non creditur, was das Vorbringen der Streitparteien zwingend an den wissenschaftlichen römischen Aktenstil koppelt.(Anmerkung 5) Damals wie heute verlangen Gerichte und ihr gelehrtes Richter- und Anwaltspersonal ständig nach möglichst aktueller Forschungsliteratur, nach umfangreichen Gesetzeswerken oder -kommentaren und ähnlichen Hilfsmitteln. Durchsetzung und Anwendung des Römischen Rechts am RKG führen daher zu einer Blütezeit juristischer Fachbüchereien und –verlagshäuser, die wiederum von Angehörigen rechtswissenschaftlicher Universitätsfakultäten mit anpruchsvollen Texten und Manuskripten beliefert werden. Die internationale Wissenschaftssprache der Juristen ist dabei durchgängig Latein; erst das 19.Jahrhundert mit seinen nationalstaatlichen Kodifikationen (z.B. der code civil des Kaisers Napoleon von 1804) bricht in der Jurisprudenz den Landessprachen endgültig eine Bahn. Alle wichtigen Druck- und Verlagsorte des 16. Jahrhunderts, darunter vor allem die süd- und südwestdeutschen Groß- und Handelsstädte: Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straßburg und Basel, beliefern jedoch den internationalen juristischen Buchmarkt mit lateinisch-gelehrter Literatur zum römischen bzw. gemeinen Recht – ein Zeichen dafür, wie mächtig in der beginnenden Neuzeit noch die Sprach- und Literaturtradition des Lateinischen ist!

Im Folgenden ist von einem in Basel erschienenen Rarissimum der juristischen Literaturgeschichte die Rede, das auf unbekannten Wegen in die Recklinghäuser Gymnasialbibliothek gewandert ist: habent sua fata libelli! Das Druckwerk, das in einen originalen Ornament-Lederschnitteinband eingefaßt ist, trägt im Titelblatt folgende Aufschrift: Antonii Augustini Iurisconsulti Hispani, Emendationum & opinionum Libri IIII, una cum eiusdem ad Modestinum sive De Excusationibus libro singulari. His maxima iuris civilis pars ex Florentinis Pandectis emendatur et declaratur; Item Laelii Taurelli Iurisconsulti Fanensis, Ad Gallum et legem Velleam, Ad Catonem et Paulum, De militiis ex casu, ex Pandectarum Florentinarum exemplari; una cum locuplete rerum & verborum in hisce memorabilium Indice. Basiliae [...]. Das Erscheinungsjahr, die Angabe des Verlagshauses und die Drucker-Vignette ist durch Papierverlust (wahrscheinlich durch vorsätzliches Herausschneiden) leider verlorengegangen, läßt sich aber durch Verweise im Kolophon (wörtlich: Schlußton, Schlussstein, hier: im emblematisch-ornamental gestalteten Abschlußvermerk des Druck- und Verlagshauses) auf das Jahr 1544 datieren. Weiterhin trägt es den mit brauner Tinte handschriftlich hinzugefügten Besitzvermerk: Michael von Kaden Doctor, der sich als vielbeschäftigter Prokurator (= Anwalt) am RKG mit dem akademischen Grad eines Dr. juris utriusque (= Doktor des römischen und kirchlichen Rechts) der Jahre 1540-1560 zweifelsfrei identifizieren läßt.

Wir befinden uns also mitten im juristischen Buchwesen des 16. Jahrhunderts und wenden uns nun den beiden Autoren und ihren Werken zu, mit deren Hilfe Rechtsanwalt Dr Michael van Kaden am RKG um 1550 seine rechtswissenschaftlichen Schriftsätze, Gutachten und Prozeßakten anfertigt. Beide Verfassernamen weisen nach Südeuropa, nach Italien in der beginnenden Gegenreformation bzw. nach Spanien im heraufziehenden siglo d’oro. Schon dies ist ein Beleg für die Internationalität des Wissenschaftsbetriebes der damaligen Juristen, denen es nicht in den Sinn gekommen wäre, mit ihren fachliterarischen Arbeiten an nationalen Grenzen halt zu machen – übrigens ein sehr modern wirkendes Phänomen: Ein neues, gemeinsames Zivilrecht in den «Vereinigten Staaten von Europa» wird diese Zustände im 21. Jahrhundert wieder heraufziehen lassen. Zunächst zum spanischen Rechtswissenschaftler Don Antonio Agostín (Anmerkung 6), der sich den vornehmen Gepflogenheiten zeitgenössischer Gelehrter gemäß die latinisierte Form seines Namens angeeignet hat. Seine Karriere ist typisch für einen Kirchenjuristen seiner Zeit.

Geboren 1517 in Saragossa studierte er in Alcalá, Salamanca, Padua und Bologna die Rechte (gemeint sind das römische und das kirchliche Recht) und steigt unter Karl V. zum Vizekanzler des Königreichs Aragon auf (d.h. zu einem der höchsten Beamten eines der Teilkönigreiche im Imperium Kaiser Karls V.). 1544 wechselt er nach Rom, um dort als Richter an der päpstlichen Sacra Rota Romana, dem höchsten kirchlichen Gericht zu arbeiten. Ein Jahr später ist er als stimmberechtigter Teilnehmer am Konzil von Trient (1545-1563) nachweisbar, mit welchem bekanntlich die katholische Gegenreformation beginnt. Danach wird er Bischof von Alifa (bei Benevent) bzw. Lérida (katalanisch: Lleyda). Nach 1557 wartet er mit einem grundlegenden Werk zur römischen Rechtsquellenlehre auf: De legibus et senatus consultis, im übrigen betätigt er sich in Rom und Süditalien auch als Numismatiker, Epigraphiker und Archäologe - eben als ein typischer Universalgelehrter der Renaissance-Zeitalters. Typisch an seinem Lebenslauf ist jedenfalls die Internationalität alteuropäischer Juristenkarrieren, die sich ja in ganz West-, Süd- und Mitteleuropa auf die Geltung des Ius commune stützen können – nationale Herkünfte und Prägungen einzelner Rechtsgelehrter spielen ja in der Frühen Neuzeit noch kaum eine Rolle. Agostín stirbt schließlich im Jahre 1576 als hochangesehener katalanischer Kirchenfürst im Range des Erzbischofs von Tarragona.

Seine beiden wichtigsten römisch-rechtlichen Werke: Emendationum & opinionum libri IIII und der Traktat über Modestin stehen uns nun vor Augen. Die «vier Bücher der Textverbesserungen und Lehrmeinungen» setzen sich intensiv mit philologisch-sprachlichen Problemen des Corpus Juris Civilis auseinander. Für ihn wie für viele Zeitgenossen gilt die Arbeitsmaxime: Ad fontes!, worin das Zeitalter der Wiedergeburt der Antike in Kunst, Sprache und Literatur, der sog. Renaissance-Humanismus, sein Motto findet. Ganz im Sinne solcher akribischer Forschungen an antiken Quellen will Agostín Beiträge zum verbesserten Text- und Wortverständnis des römischen Rechts liefern. Sie sind Teil des groß angelegten Lebenwerkes Agostíns „to renew the study of the whole body of source materials for roman and canon law“ (M.H. Crawford (Anmerkung 7)). Die Erstausgabe des vierteiligen Werkes ist in Venedig im Jahre 1543 erschienen und beschert Agostín auf internationaler Bühne den wissenschaftlichen Durchbruch – im Recklinghäuser Exemplar liegt also die zweitälteste Auflage vor. Agostín ist bei seinen Emendationen weniger als Jurist, vielmehr als Gelehrter der Lateinischen Sprache und Rechtsliteratur tätig, der – ähnlich einem Erasmus von Rotterdam und seinen Bibelstudien – einen von allen sprachlichen, orthographischen und syntaktischen Fehlern gereinigten Text des Römischen Rechts herstellen will: Grundlage ist dabei selbstverständlich besagte uralte Textüberlieferung der Florentina. Sein zweites Werk: Ad Modestinum sive De Excusationibus ist ein wissenschaftlicher Kommentar zum sechsbändigen (!), ursprünglich griechisch verfaßten Hauptwerk des klassischen römischen Juristen Herennius Modestinus (erste Hälfte 3. Jahrhundert n. Chr.) (Anmerkung 8) über Entschuldigungs-, Ablehnungs- und Befreiungsgründe (excusationes) bei der Bestellung von Vormündern, Treuhändern und Nachlassverwaltern, deren haftpflichtiges Tun und Lassen selbstverständlich auch vor dem RKG im 16. Jahrhundert zum Streitfall werden kann.

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Modestin gehört übrigens neben seinen römischen Kollegen Aemilius Papianus, Domitius Ulpianus und Iulius Paul(l)us zu den berühmtesten und einflussreichsten Juristen der Weltgeschichte. Kein Wunder also, dass sich Dr. Michael von Kaden gerade bei Modestin und seinem grundlegenden Werk über rechtliche Probleme der Vormundschaftsverwaltung schlau machen will, um am RKG entsprechenden Mandanten zum ihrem Recht verhelfen zu können. Kommen wir nun zum zweiten Autor unseres Bandes: zu Laelius Taurellus, oder besser gesagt: zu Lelio Torelli aus Fano (Anmerkung 9), der Bischofsstadt in der Provinz Urbino an der Adria, zugehörig zum Patrimonium Petri, dem alten Kirchenstaat. Seine Karriere ähnelt derjenigen des Agostín: geboren 1489 in Fano studiert er in Ferrara die Rechte, bekleidet zunächst ein hohes Amt beim Magistrat der Stadt Fano, wird später päpstlicher Gouverneur in Benevent. 1531 wechselt er als weltlicher Justizbeamter an die päpstliche Rota, dem oben erwähnten «high court» der katholischen Kirche. 1546 wird er Kanzler des von der Medici-Dynastie beherrschten Stadtherzogtums Florenz, wo er 1553 eine mehrbändige wissenschaftliche, auch von den Textforschungen Agostíns beeinflußte Druckausgabe des Corpus Juris Civilis auf Grundlage der Florentina veröffentlicht. Torelli stirbt 1576 in Florenz und steht bis heute in dem Rufe, einer der bedeutendsten juristischen Textforscher der Renaissance-Zeit zu sein.

Seine gesammelten Monographien: Ad Gallum et legem Velleam, Ad Catonem et Paulum, De militiis ex casu erscheinen erstmals 1542 in Florenz im Druck, die in Recklinghausen vorliegende Baseler Ausgabe von 1544 ist die zweitälteste überhaupt. Die Studie Ad Gallum zur sog. stipulatio Aquiliana, benannt nach dem römischen Konsul Caius Aquilius Gallus (Anmerkung 10), beschäftigt sich mit einer besonderen Spielart des Schuldnerwechsels (sog. novatio), bei welchem diverse Ansprüche und Forderungen in ein vereinheitlichtes Schuld- und Leistungsversprechen umgewandelt und per Generalquittung vom Gläubiger anulliert werden können. (Anmerkung 11) Damit eng verwoben erscheint Torellis Kommentar zur lex Velleia, benannt nach dem in augusteischer Zeit wirkenden Konsul Iunius Velleius (man erinnere sich an das römische Gesetzgebungsverfahren, das den amtierenden Konsuln mit jeweiligen Abstimmungen in der Volksversammlung, den sog. Komitien, oblag). Iunius Velleius hatte mit seinem Gesetz die Zulässigkeit der Erbeinsetzung eines zu Lebzeiten des Erblassers noch nicht zur Welt gekommenen Nachgeborenen (eines sog. postumus) durchgesetzt (Anmerkung 12) und damit die Erbfähigkeit und Erbeinsetzbarkeit eines Ungeborenen erstmals festgeschrieben. – Erb- und Testamentsstreitigkeiten gehören übrigens zu den häufigsten und langwierigsten Streitmaterien am RKG, für welche sich ein Prokurator erst mit komplizierter römischer Fachliteratur ausreichend präparieren kann!

Ad Catonem et Paulum, eine äußerst kurze Abhandlung, geht Fragen der mündlich vereinbarten Schuld- und Vertragsverhältnisse nach (sog. obligationes verbales) und ventiliert Probleme der (mündlich vereinbarten ) Bestellung von Grund- und Gebäudedienstbarkeiten – ein Sachverhalt, der im antiken Rom oder Pompeji ebenso wie in den frühneuzeitlichen deutschen Städten (auch in Recklinghausen!) unzweifelhaft zum Rechts- und Gerichtsalltag gehört. Schließlich fehlt nicht der in Briefform gehaltene, an keinen geringeren als Agostín adressierte Traktat: De militia ex casu zur (Gesetzes-) Novelle 53,5 des Kaisers Justinian (Anmerkung 13).

Sog. Novellen sind Gesetzesinitiativen, mit denen die spätantiken Kaiser einzelne Rechtsmaterien des Corpus Juris aktualisieren und erweiteren. In der von Justinian in Kraft gesetzten Novelle 53 geht es um neue Regelungen zivilrechtlicher Belange von Soldaten, darunter auch um das Problem von Soldatentestamenten. Das 5. Kapitel wiederum handelt von der Frage, unter welchen Umständen Angehörige des Militärs hypothekarisch gesicherte Verbindlichkeiten eingehen können und worin die Rechte des Gläubigers gegenüber einem (verschuldeten) Soldaten liegen. – Auch dies ist in der Rechtswirklichkeit des kriegerischen 16. Jahrhunderts, d.h. im beginnenden Zeitalter riesiger Söldnerheere unter der Leitung mächtiger «Warlords», ein hochaktuelles Thema, bei welchem sich Dr. Michael von Kaden bei Justinian und bei dessen Kommentator Torelli Rat und Hilfe holt.

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Fazit: Bücher haben ihre Schicksale. Die äußerst wertvolle Ausgabe von Agostíns und Torellis Schriften bietet ungeahnte Einblicke in den juristischen Literaturbetrieb des 16. Jahrhunderts und ist ein Prunkstück der Gymnasialbibliothek, das eine eingehende Würdigung verdient. Doch hinterläßt das Buch viele offene Fragen. Vor allem diejenige, wie ein RKGProkurator namens Dr. Michael von Kaden und die Bibliothek des Gymnasiums Petrinum zueinanderkommen. Ist er ein Abkömmling aus vestischer Familie? Leider sind die Juristenbiographien des 16. Jahrhunderts so gut wie nicht erforscht. In die immens umfangreich gewordene Forschung zum RKG und zur Rezeption des Römischen Rechts in Deutschland fügt sich hingegen ein neuer kleiner Mosaikstein ein. Das mächtigste und einflußreichste Erbe Roms, sein Raum und Zeit überwindendes jus civile, läßt sich bis in einzelne Druckwerke hinein minutiös verfolgen. Dies ist nicht nur in Rom, Florenz oder den altehrwürdigen Bibliotheken und Archiven anderer europäischer Großstädte möglich, sondern auch in der Bibliotheca Petrina zu Recklinghausen. Weitere Bücherschätze der Gymnasialbibliothek warten auf ihre Entdeckung.

Recklinghausen, im März 2000

Text: Dr. Matthias Kordes, Stadtarchivar

Anmerkungen:

(1) Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. Aus dem Italienischen übersetzt von Brigitte Galsterer, 2. Aufl. München 1998, S. 251-256.

(2) Vgl. hierzu Alfons Bürge, Römisches Privatrecht. Rechtsdenken und gesellschaftliche Verankerung. Eine Einführung. Darmstadt 1999.

(3) Berndt Schildt, Die Rechtssprüche deutscher Juristenfakultäten als Quelle rechtshistorischer Forschung, in: Staat und Recht 6 (1983), S. 470-477.

(4) Druck: Mainz, Peter Schöffer 1495, 7 Bll. Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln, Bestand 50: Köln und das Reich, 22, fol. 64r-70v.

(5) Detlef Liebs (Bearb.), Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 6. Aufl., München 1998, S. 197. Zum (älteren) RKG-Prozeß als solchen vgl. Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555, Köln, Wien 1981, S. 87-211. W. Sellert: Art.: Prozeß des Reichskammergerichts, in: HRG, Bd. IV, Berlin 1990, Sp. 29-36. Zusammenfassend Filippo Ranieri, Rezeption und Prozeßrecht am Reichskammergericht, in: Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994, S. 170-174. Bernhard Diestelkamp, Verwissenschaftlichung, Bürokratisierung, Professionalisierung und Verfahrensintensivierung als Merkmale frühneuzeitlicher Rechtsprechung, in: ebd., S. 110-121. Kurzer Abriß der Geschichte des RKG bei Bernhard Diestelkamp, Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995, S. 11-38.

(6) Z.f. Dictionnaire du Droit Canonique, Tome I, Paris 1935, Sp. 628-629. M.H. Crawford: Antonio Agostin between Renaisseance and Counter-Reform, London 1983.

(7) Introduction, in: ders. (Hg.), Antonio Agostin (wie vorige Anm), S. 1.

(8) Michael Stolleis (Hg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1995, S. 430-431.

(9) Z.f. Nouvelle Biographie Générale depuis les temps les plus reculés jusqu’à 1850-60, Tom. XLV, Paris 1866, col. 490-491.

(10) Zeitgenosse Caesars und Ciceros, vgl. hierzu Bretone, Geschichte des Römischen Rechts (wie Anm. 1, S. 115-116.

(11) Max Kaser, Römisches Privatrecht, 16. Aufl., München 1992 § 54,I,4 (S. 246).

(12) Wie vorige Anm., § 68,II,3 (S. 318).

(13) Giovanni Gualandi, Per la storia della editio princeps delle pandette Fiorentine di Lelio Torelli, in: Le pandetti di Gustiniano. Storia e fortuna di n Codice illustri. Due giornali di studio Firenze 23-24 giuglio 1983, Firenze 1986, S. 150, Anm. 18.

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