Das Graduale aus der Stiftskirche St. Cornelius und Cyprianus

Die Stiftsbibliothek St. Cornelius und Cyprianus verfügt über ca. 300 Bände mit einem deutlichen Schwerpunkt im 16. Jahrhundert, außerdem über drei mittelalterliche Hanschriften. Eines der herausragenden Werke ist das Graduale.

Heute erstrahlt das Metelener Graduale wieder in neuem Glanz. Das von dem niederländischen Restaurateur Peter Schrijn, einem Experten für "schwere Fälle", restaurierte Exemplar mit gregorianischen Gesängen für den liturgischen Gebrauch konnte schon 1996 den Metelenern Bürgern im Rahmen einer kleinen Feierstunde vorgestellt werden.

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Zuvor hatte sich diese Handschrift zusammen mit anderen Kunstschätzen der Stiftskirche St. Cornelius und Cyprianus in der Stiftskammer zu Metelen befunden. Der Zustand war - auch im Vergleich mit den anderen beiden Metelener Handschriften, die heute noch existieren - äußerst kritisch. Von dem aus Eichenholz gefertigten Buchdeckel war nur noch der Rückdeckel erhalten. Abgesehen von einem Fragment fehlte der Lederbezug vollständig. Dazu waren die Seiten stark verschmutzt und die Ecken abgegriffen oder sogar ausgerissen. Nicht übersehen konnte man die gelockerte Heftung, zumal einige Lagen sich bereits vom Buchblock gelöst hatten. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei Handschriften um Unikate handelt und diese als wertvolles Kulturgut unbedingt erhalten werden müssen, entschloss sich die Metelener Pfarrgemeinde dazu, dieses wertvolle Graduale restaurieren zu lassen.

Nicht wiederhergestellt werden konnten jedoch die ersten Lagen des Buchblocks, die vermutlich schon seit einigen Jahrhunderten fehlen. Allem Anschein nach wurden sie nach der Manier der damaligen Zeit herausgetrennt und für den Einband andere Texte oder auch Listen und Rechnungen der Stiftsverwaltung verwendet: Es wurde sparsam mit dem wertvollen Beschreibstoff Pergament umgegangen. Wurde eine Textstelle nicht mehr gebraucht, entfernte man sie durch Rasur. Sorgfältig schabte man mit einer Ziehklinge dabei die Schrift vom Pergament so weit ab, dass einer neuen Beschriftung nichts mehr im Wege stand. Daneben gibt es an vielen freien Stellen - etwa am Rand oder in Zeilenzwischenräumen - Eintragungen verschiedenster Art, sogenannte Marginaleinträge. Dies ist typisch für Gebrauchshandschriften, zu denen auch das Metelener Graduale zählt.

Derartige Handschriften hatten nie einen endgültigen Charakter, sondern entwickelten sich immer weiter. Jahrzehntelange geschichtliche Prozesse werden durch sie dokumentiert und können heute noch zurückverfolgt werden. So ist das Metelener Graduale liturgie- und regionalgeschichtlich von großer Bedeutung, zeigt es doch, wie ein Codex, der ursprünglich nicht für den Konvent verfasst worden war, übernommen und weiterbearbeitet wurde. Textstellen, die für den Gebrauch im Konvent dann nicht mehr von Bedeutung waren, ersetzte man durch andere Gesänge. Aus Mangel an Pergament erfolgten Einfügungen neuer Gesänge dort, wo es der Platz zuließ. Auf den Erhalt von thematischen Zusammenhängen konnte dabei keine Rücksicht genommen werden. Dies alles erklärt, warum die Gesänge der Weihnachtszeit plötzlich von Liedern aus der Totenliturgie unterbrochen werden. Gleichzeitig ist die Veränderung liturgischer Gewohnheiten aus dem Graduale herauszulesen. So stellt es z. B. ein Zeugnis für die Neueinführung des Fronleichnamfestes dar, aber auch für die Beliebtheit des Nikolausfestes, das besonders in der Diözese Münster gefeiert wurde.

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Der Mittellateiner Dr. Wilfried Schouwink befasste sich mit der Datierung und Lokalisierung der Handschrift. Nach ihm handelt es sich bei dem Metelener Graduale um einen liturgischen Gebrauchscodex. Er enthält alle Messgesänge, die von Chor oder Schola gesungen wurden. Die Erstbeschriftung lässt erkennen, dass diese Schrift in einem Übergangsstadium entstanden ist. Man verwandte zunächst eine gotische Minuskel, wobei es sich um Buchstaben handelt, die im Vierliniensystem geschrieben sind. Die einzelnen Buchstaben sind noch getrennt. Sie wurden noch nicht miteinander verbunden, wie es im 13. Jahrhundert üblich war. Die einzigen, aufwändig gestalteten Schmuckelemente im Graduale sind die Initialen des Introitus Schemenhaft sind hier noch Zierlinien und Rankenwerk zu erkennen.

Ähnlich wie die Primärbeschriftung kann man auch bei der Musiknotation einen Übergangsstil erkennen. Da seinerzeit noch kein einheitliches Notensystem zur Verfügung stand, wurden die einzelnen Noten offenbar noch nicht auf die Linien bezogen. Die Melodien waren in Neumen, in für das Mittelalter typischen Notenhilfszeichen, notiert. Aneinandergereiht ergaben die Neumen eine Kurve, die in etwa die Melodie kennzeichnete. Sie dienten lediglich als Gedächtnisstütze und waren beim Vortragen der zumeist bekannten Melodien behilflich. Im Graduale wurde bereits das modernere, auf den im elften Jahrhundert gestorbenen Guido von Arezzo zurückzuführende Liniensystem verwendet. Die mit roter Farbe gezogenen Linien sind jedoch mit bloßem Auge kaum noch zu erkennen.

Dr. Schouwink schließt bei der Handschrift auf ein hohes Alter, da sich in jedem Messformular zusätzlich Offertoriumsverse befinden oder zumindest deutlich erkennbar ist, dass dort ursprünglich solche Verse standen. Dies war im 12. Jahrhundert durchaus üblich. Später wurden die Verse allerdings teilweise wieder gestrichen, wie in der Sekundärbeschriftung deutlich wird. Sie wurden als unnötig empfunden, als man im 12. Jahrhundert zunehmend auf die bis dahin übliche Prozession während der Gabenbereitung verzichtete. In die nach Rasur freigewordene Stellen wurden im späten Mittelalter neue Gesänge eingefügt. Diese in der Sekundärbeschriftung eingefügten Lieder wiesen bereits die sogenannte Hufnagelnotation in einem schwarz linierten Notensystemen auf, die auf eine Entstehung im 14. oder 15. Jahrhundert schließen lassen. Die Noten waren rhombenförmig und erinnern an Hufnägelköpfe, nach denen diese Schreibweise auch benannt wurde. Ähnlich aufschlussreich sind die Marginaleinträge, welche deutlich die Veränderungen der Schreibgewohnheiten im Laufe der Jahrhunderte spiegeln, wobei nach dem 16. Jahrhundert wohl keine Einträge mehr vorgenommen wurden.

Um eine Datierung dieser Handschrift zu gewährleisten, war unter anderem ein Vergleich mit ähnlichen Schriften notwendig. Als am ehesten vergleichbar mit dem Metelener Codex erwies sich das Stadtlohner Graduale, dessen Entstehung von dem inzwischen verstorbenen Münsteraner Liturgiewissenschaftler Emil Lengeling in seiner Habilitationsschrift von 1958 auf die Zeit um 1300 geschätzt wurde. Die Stadtlohner Handschrift weist sehr starke Ähnlichkeiten im Schriftbild, der Art der Notation sowie dem Festkalender mit dem Metelener Graduale auf. Offertoriumsverse wie in der Metelener Handschrift finden sich darin aber nicht mehr, was Dr. Schouwink vermuten lässt, dass das Metelener Graduale mindestens genauso alt oder sogar noch etwas älter als das aus Stadtlohn stammende ist; seine Entstehungszeit ist folglich Ende des 13. Jahrhunderts.

Hinweise auf einen Schreiber gibt es in dem Metelener Graduale nicht. Jedoch kann man davon ausgehen, dass sämtliche in Metelen neu hinzugefügte Gesänge dieses Graduales von einer Schreiberin notiert wurden, da die Rasurbeschriftungen, die im Damenstift Metelen vorgenommen wurden, stilistisch kaum Unterschiede aufweisen. Dis spricht für das hohe Bildungsniveau in diesem Damenstift.

Als wichtig erscheinen zudem zwei Randnotizen, die die Feier von zwei Festen des Gründers des Bistums Münster, des heiligen Liudger belegen. Diese Tatsache legt eine Entstehung der Schrift in der Diözese Münster nahe. Möglicherweise wurde sie sogar im Umkreis des Domes angefertigt, da das Graduale eine besondere Eigenschaft aufweist: Dem Schreiber hat vermutlich besonders an der Gestaltung der Paulusfeste gelegen. So enthält das Graduale zahlreiche Messgesänge, die eigens für diesen Patron geschrieben wurden. Auffällig ist die Gestaltung der Initiale des Introitus Nunc scio vere. Diese ist genauso aufwendig wie die der Hochfeste Ostern und Pfingsten, während die übrigen Initialen eher schlicht gestaltet sind. Deshalb kann man annehmen, dass dem Paulusfest ein genauso großes Gewicht zukam wie den höchsten Kirchenfesten. Eine derartige Verehrung dieses Heiligen lässt vermuten, dass diese Handschrift dort verfasst wurde, wo ein Paulus-Patrozinium bestand, dies war zu jener Zeit im Bistum Münster lediglich in Münster und in Dorsten der Fall. Letztgenannter Ort kommt aber für die Abfassung einer so aufwändigen Handschrift wohl kaum in Frage. Für eine Entstehung der Handschrift in Münster sprechen auch die Marginalien, in denen der Schreiber auf das Fehlen der Liudgerfeste hinweist, die zu Ehren des Bistumsgründers gefeiert werden sollten.

Doch wie gelangt eine in Münster angefertigte Handschrift in das Meteler Damenstift St. Cornelius und Cyprianus?
Schließlich waren die Beziehungen zwischen den auf ihrer Autonomie bestehenden Stiftsdamen und dem Bischof von Münster zumeist spannungsgeladen. Erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts, als Äbtissin Gertrud II. das Stift regierte, konnten die Streitigkeiten beigelegt werden. Möglicherweise war diese Handschrift eine Schenkung an das Stift, zumal sich die Äbtissin seit der Fertigstellung des spätromanischen Chores in der Stiftskirche ganz der Gestaltung der Gottesdienste in der erweiterten Kirche widmete.

Insgesamt ist diese Handschrift von großer Bedeutung, zumal der Handschriftenbestand unseres Landes durch den zweiten Weltkrieg stark reduziert wurde. Die vielen Marginaleinträge, Rasuren und Neubeschriftungen sind besonders für Liturgiehistoriker eine nicht zu unterschätzende wertvolle Quelle.

Text: Daniela Brockmannn