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wissen.leben.lesen › Alain Deligne

In Anlehnung an die Frage „Lek­türe muss sein! Welche?“ aus der Inter­viewrei­he „3 ½ Fra­gen an …“ aus der ZEIT stellen in dieser Rei­he Ange­hörige der Uni Mün­ster Büch­er oder Artikel vor, die für ihre Lehre oder Forschung wichtig sind, die sie im Studi­um bee­in­flusst haben oder die sie aus anderen Grün­den für empfehlenswert hal­ten – vielle­icht auch als Feier­abend- oder Urlaub­slek­türe. 🙂


Heinz Wis­mann
Penser entre les langues
Paris: Albin Michel 2012.
der Band ste­ht unter der Sig­natur Ph 8/124 in der Bib­lio­thek des Roman­is­chen Sem­i­nars zur Ver­fü­gung

Ger­ade weil nicht nur rein wis­senschaftlich, son­dern auch biographisch angelegt, möchte ich dieses Buch sehr empfehlen. Mit seinen Inter­views ist es eigentlich ein ‹hinge­sproch­enes› Buch: Manch­mal hört man den homme de dia­logue sprechen.

Mit dem eröff­nen­den Kapi­tel, „vagabondages auto­bi­ographiques“, erfährt der Leser Prä­gen­des über Heinz Wis­man­ns Lebens- und Bil­dungsweg. 1935 in Berlin geboren, Sohn eines frankophilen Kun­sthis­torik­ers und NS-Funk­tionärs, der 1944 im Krieg fiel, ver­brachte der junge Wis­mann seine Kind­heit auf der Flucht vor den Russen. Ende 1945 gelangt die Fam­i­lie nach Mün­ster zu ein­er streng katholis­chen Tante. Wed­er katholisch noch protes­tantisch, beze­ich­net sich der junge Schüler naiv als gottgläu­big. „Vagabundierende Reli­giosität“ hieß damals der sozi­ol­o­gis­che Begriff für diese Ein­stel­lung. Wis­mann studierte dann Alt­philolo­gie und Philoso­phie an der Freien Uni­ver­sität Berlin, wo er 1956 den franzö­sis­chen Gräzis­ten Jean Bol­lack (1923–2012) ken­nen­lernte. 1958 erhält er ein Stipendi­um von der Deutschen Stu­di­en­s­tiftung. Mit Bol­lack ging er nach Lille, und Wis­mann wurde sein enger Mitar­beit­er. 1960 entschei­det er sich für Paris als Lebens­mit­telpunkt und macht sich mit dem Philoso­phiem­i­lieu der Sor­bonne ver­traut. So ist es wenig erstaunlich, dass er sich sein Leben lang für sprach­liche Phänome­nen begeis­terte. Zwis­chen Alt­griechisch, Deutsch und Franzö­sisch ent­fal­tete er neue Denkmöglichkeit­en. Anhand von Beispie­len und Anek­doten fragt er sich in diesem Buch unter anderem: Wo ste­hen wir in Europa zwis­chen Sprachen, Kul­turen und Inter­essen? Dieses „entre-deux“ ist kein vages Dazwis­chen, ein „Penser entre les langues“ ist nicht deck­ungs­gle­ich mit „par­ler entre“. Jed­er, der die Sprache wech­selt, als Über­set­zer oder Hermeneut, alle bewe­gen sich wie „Seiltänz­er“ von einem Fix­punkt zum anderen. Eine solche akro­batis­che Bewe­gung kann man als Leit­faden für das Kul­turver­ständ­nis des Autors ver­ste­hen, wobei „vagabon­der“ hier nicht „errer“ heisst. Wenn man seine Heimat ver­lässt, wie der Wan­der­er der deutschen roman­tis­chen Tra­di­tion, entwick­elt sich eine Disponi­bil­ität für das Neue. Das geistige Wan­dern wird Bil­dung­sprinzip. Das Buch erk­lärt auch die beson­dere Zwis­chen­po­si­tion, die Wis­mann im Fächerkanon der franzö­sis­chen Uni­ver­sität ein­nahm: Den Philosophen erschien er zu sehr als Philologe, den Gräzis­ten zu sehr als Philosoph. Wed­er den einen noch den anderen leuchtete ein, dass das „Zwis­chen“ ein Medi­um der Reflex­iv­ität sein sollte.

Eine jede Sprache eröffne einen Zugang zur Wirk­lichkeit: Sie sei eine Weltan­sicht, wie Wil­helm v. Hum­boldt sagte. Was für uns heute selb­stver­ständlich ist, war es bis zur Mitte des 18. Jahrhun­derts nicht, als die Sprachen noch unter dem Ide­al des Uni­ver­sal­is­mus gedacht wur­den. So beanspruchen Fran­zosen, ihre Sprache sei fähig, die lin­gua adam­i­ca am getreuesten nachzuah­men. Wegen ihrer Fähigkeit, Ideen klar und deut­lich auszu­drück­en, sei sie der auf Gotte­san­weisung beruhen­den Sprache des puren Benen­nens am näch­sten. Wis­mann unter­sucht außer­dem die Wirkung ein­er Begeg­nung im Jahr 1798 zwis­chen dem Abbé Sièyes, der sich als Rev­o­lu­tionär ver­stand, und dem Kan­tian­er Hum­boldt, der Sièyes Kant erk­lären sollte. Dieser Begeg­nung war ein Sprach­missver­ständ­nis vor­ange­gan­gen. Kant, als Vertreter der soge­nan­nten „révo­lu­tion coper­ni­ci­enne“, hat­te schlicht von ein­er kopernikanis­chen „Wende“ (tour­nant) gesprochen. Nach einem sieben­stündi­gen Gespräch musste der franzö­sis­chsprachige Hum­boldt aufgeben: Das Inter­esse, poli­tis­ch­er Art ein­er­seits, philosophis­ch­er Art ander­er­seits, hätte nicht größer sein kön­nen. Fern­er habe es keinen Sinn, Philoso­phie zu ver­mit­teln, wenn Sprach­bar­ri­eren zu groß seien. Von nun an wird sich Hum­boldt, über den Unter­schied der Vok­a­beln hin­aus, für die Sprachen­vielfalt und die Ver­schieden­heit ihres „Sprach­baus“ inter­essieren. Was er the­o­retisch weit­er­führen wird, hat­te zur sel­ben Zeit die Schweiz­erin Mme de Staël intu­itiv ent­deckt.

Bei einem Besuch bei Goethe war ihr aufge­fall­en, dass die Deutschen, hat­ten sie ein­mal das Wort ergrif­f­en, sich nicht unter­brechen ließen. Weil es keine Unter­brechung gebe, sei keine Kon­ver­sa­tion möglich! Sie kon­nte sich diese Prax­is nur durch eine Ver­schieden­heit der Syn­tax erk­lären. In zwei Kapiteln über „De l’esprit de con­ver­sa­tion“ ihres Buch­es De l’Allemagne (1810) beschreibt sie, wie das, wovon die Rede ist, auf Deutsch immer nach dem kommt, was man davor sagt (wie beim Kom­posi­tum „Kaf­fee­tasse“ (tasse à café) oder bei der Nach­stel­lung des Verbs in Neben­sätzen). Der Gespräch­part­ner ist dann zum Schweigen verurteilt. Daraus schließt sie, der Deutsche müsse etwas zu sagen haben oder so tun als ob, während man in den Paris­er Salons „sprechen, ohne [etwas zu] sagen“ (d. h. causer) kann. Sie ver­misse das Gezwitsch­er ihres Salons (man denke nur an das Twit­tern heutzu­tage!), wo alle gle­ichzeit­ig sprechen und sich den­noch alle ver­ständi­gen. Die Stel­lung des Verbs am Ende ist aber nach Wis­mann nicht allein entschei­dend: Das Verb habe auch mehr Aus­sagekraft. Auf Franzö­sisch dage­gen ist es, als ob es stören würde: être ist meis­tens Kop­u­la und ver­schwindet qua­si zwis­chen Sub­jekt und Prädikat. So gese­hen könne es nicht das „Sein“ der Hei­deg­ger­schen Speku­la­tion wer­den. Ein Indiz dafür, dass auf Deutsch das Wirken betont wird, ist, dass das Verb auch als Zeit­wort beze­ich­net wird: Der Wirk­lichkeits­bezug ist dann dynamisch, während das Franzö­sis­che sich auf eine réal­ité (vom lateinis­chem res, d. h. etwas Sta­tis­ches) bezieht.

Wis­mann unter­schei­det radikal vere­in­fachend zwis­chen deno­ta­tiv­en und kon­no­ta­tiv­en Sprachge­brauch. Dem ersten Pol entsprechen die langues de ser­vices, Sprachen ohne Autoren und ohne Werke, wie die langues du par­adis oder das aktuelle Glo­bisch: Sie sind im Wesentlichen objek­t­be­zo­gen und allen gemein­sam. Dem anderen Pol gehören die his­torisch gewach­se­nen langues de cul­ture an, die die sub­jek­tive Ein­stel­lung des Sprech­ers zur Wirk­lichkeit, d. h. das Meinen, wider­spiegeln. Wis­mann macht den Unter­schied am Beispiel von Her­ak­lit frucht­bar. Gegen die Hei­deg­ger­sche Inter­pre­ta­tion sein­er Frag­mente, hier spreche das „Sein“, argu­men­tiert er, dass es nicht um eine Offen­barung gehe, son­dern hier die Stimme von jeman­dem zu hören sei. Dank ein­er Aufmerk­samkeit auf die verän­derte Syn­tax – dabei geht es meis­tens um die Vari­a­tio­nen fest­ste­hen­der For­mulierun­gen – kommt der Hermeneut auf die Spur eines Meinens. All­ge­mein­er gesagt: Es wird der tradierten Gram­matik etwas ent­nom­men, das eine Beson­der­heit aus­macht. Eine ähn­liche Sit­u­a­tion beschreibt Wis­mann am Beispiel von Hölder­lin, in der er sich als Dichter eben­falls befind­et: „entre les langues“, näm­lich zwis­chen Alt­griechisch und Deutsch. Eine ungewöhn­liche dritte Sprache – ein hel­lenisiertes Deutsch – entste­ht, das aus der Dif­ferenz zwis­chen der Mut­ter­sprache und der Her­aus­forderung durch eine fremde Sprache resul­tiert. Rilke und Tse­tae­va waren auch auf der Suche nach ein­er solchen poet­is­chen Sprache in ihrer Mut­ter­sprache.   

Solche Über­legun­gen haben wichtige Kon­se­quen­zen für die Erziehung. In den Schul­sys­te­men Europas fehlt es immer mehr an ein­er Auseinan­der­set­zung mit den his­torischen Kul­tur­sprachen. Viele junge Fran­zosen find­en Balzac oder Molière schw­er les­bar, weil ihnen oft nur noch Instru­mente ver­mit­telt wer­den, um einen Zeitungsar­tikel zu analysieren oder augen­blick­lich zu kom­mu­nizieren. Wenn man z.B. die Prosa Balzacs zu sehr vere­in­facht, indem man sie auf den Infor­ma­tion­swert ihrer Sätze reduziert, werde sie zu ein­er langue de ser­vice. Man lässt dann immer mehr das Kon­no­ta­tive, d.h. das sub­jek­tiv Gemeinte verküm­mern. Eine Lehrerin aus der Sekun­darstufe, Mireille Ko, hat 2000 ein lesenswertes Buch über die ther­a­peutis­che Wirkung alter Sprachen veröf­fentlicht: Sie liege darin, dass sie einem ermöglicht, ältere Schicht­en in der Mut­ter­sprache zu ent­deck­en. Diese Ablagerun­gen, die sich inzwis­chen auch in der bere­its von manchen als tot deklar­i­erten Prosa Balzacs gebildet haben, kön­nen im Licht der unmit­tel­baren Effizienz der Kom­mu­nika­tion ein­fach nicht beurteilt wer­den.

Wenn man in seinen Sem­i­naren mit ein­er schwieri­gen Textpas­sage kon­fron­tiert war, erin­nerte Wis­mann gern an einen couragierten Spruch von Bol­lack: „Die Einen sagen so, die Anderen sagen so. Sie sehen […], man weiß es nicht“. Als Stu­dent in Lille am Cen­tre de Recherche philologique, einem im Sinn ein­er kri­tis­chen Hermeneu­tik 1971 neuge­grün­de­ten Zen­trum, habe ich oft die Sit­u­a­tion erlebt, dass man sich zunächst geste­hen musste, nicht zu ver­ste­hen. An sich war die Mit­teilung dieser Per­plex­ität ein anspruchvolles Wis­sensprinzip. In den hochschulpoli­tis­chen Auseinan­der­set­zun­gen des Mai 1968 bezo­gen Wis­mann und Bol­lack auch eine unkon­ven­tionelle und pro­voka­tive Posi­tion für eine soge­nan­nte „Befreiung der Vari­anten“ (gemeint waren die Vari­anten im kri­tis­chen Appa­rat der Edi­tio­nen von griechis­chen Autoren, die bis dato nicht richtig berück­sichtigt wor­den waren).

Wis­mann ver­ste­ht Sprache in einem erweit­erten Sinn: Sie impliziert für ihn auch Gestik. In dem rät­sel­haften Frag­ment 3 wird der liegende Her­ak­lit gefragt, wie groß die Sonne sei. Gegen den zeit­genös­sis­chen speku­la­tiv­en Diskurs, nach dem die Sonne zwölf Mal größer sei als sie erscheine, hebt Her­ak­lit iro­nisch seinen Fuß, der dann die Sonne ver­birgt und sagt, die Sonne habe die Größe eines Fußes. Sich­er haben ehe­ma­lige Stu­den­ten noch das Bild des nachah­menden Wis­mann vor Augen.

Nicht nur in Lehre und Forschung, son­dern auch in sein­er Edi­tion­sar­beit macht Wis­mann Durchgänge möglich. 1986 griff er den Vorschlag der Dominikan­er auf, eine neue Rei­he unter dem Titel  Pas­sages in das Ver­lagspro­gramm der édi­tions du Cerf aufzunehmen. Der Tagungs­bericht eines Inter­na­tionalen Kon­gress­es zu dem Pas­sagen­werk von Wal­ter Ben­jamin ste­hen pro­gram­ma­tisch für die Rei­he, die an der Kreuzung zwis­chen Philoso­phie, The­olo­gie und Sozial­wis­senschaften stat­tfand (jahre­lang war Wis­mann Gast­pro­fes­sor an der Paris­er École des Hautes Études en Sci­ences Sociales). Inner­halb von zwanzig Jahren sind mehr als 150 Bände erschienen.

Es sprengte den Rah­men dieser Darstel­lung, würde man noch ein Kapi­tel wie « Homère ver­sus Hésiode » präsen­tieren oder würde man der ungeteil­ten Aufmerk­samkeit Wis­man­ns auf die Musik Gehör schenken (er skizziert eine kurze Geschichte der west­lichen Musik von Pla­ton bis zum Rock ‚n‘ Roll, die auch eine Geschichte zu zäh­mender Dis­so­nanzen ist). Auch die schwieri­gen Fra­gen bezüglich der Atom­lehre Demokrits, nach der die Atome keine Kör­p­er seien, son­dern Ideen, bedürften ein­er län­geren Behand­lung.

Wis­mann ist ein Mit­tler, der etwas zu sagen hat und am lieb­sten immer wieder mündlich vorträgt, z. B. im Radio bei France Cul­ture, trotz der ständi­gen Unter­brechun­gen. Sein Buch ist ein Buch für Alt­philolo­gen, Sprach­philosophen, Lin­guis­ten, Poe­t­olo­gen, Kul­tur­philosophen und Päd­a­gogen. Eine deutsche Über­set­zung dieses Buch­es ist von großem Inter­esse.

Prof. Dr. Alain Deligne
Roman­is­ches Sem­i­nar

aus den Pub­lika­tio­nen:
Charg­er. L’idée de poids dans la car­i­ca­ture. Paris: L’Har­mat­tan 2015.
(in der ULB in zwei Exem­plaren ver­füg­bar)

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